© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Metropole des Mittelalters
Kulturhauptstadt Europas 2002: Geschichtliche Streifzüge durch Brügge
Manfred Müller

Längst ist Brügge, das in diesem Jahr als Kulturhauptstadt Europas fungiert, nicht mehr das "tote Brügge", als welches es der französisierte flämische Dichter Georges Rodenbach (1855- 1898) in seinem 1892 erschienenen kleinen Roman "Bruges la morte" geschildert hat. In diesem Buch, das E.W. Korngold für seine Oper "Die tote Stadt" als Vorlage benutzt hat, ist Brügge eine bigott katholische, ausgestorben wirkende und prüde Provinzstadt, unter ewigem Regen, mit der mystischen Stille seines Beginenhofs, seiner Kirchen und Hospize. Der Familienname dieses Dichters Rodenbach weist auf deutsche Vorfahren, nicht verwunderlich bei den vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Flandern und Deutschland.

Ein jüngerer Verwandter dieses Dichters der literarischen Dekadenz ist Albrecht Rodenbach (1856-1880), ganz und gar nicht französisiert, mit seinen frisch-kämpferischen Versen ein Inspirator der katholischen flämischen Studentenbewegung mit manchen seiner schwungvoll vertonten Kampflieder noch heute in der flämisch-nationalen Bewegung lebendig.

Was Georges Rodenbach so stimmungsvoll in Worte gefaßt hat, ist auch heute noch zu manchen Stunden, wenn sich die Touristenströme verlaufen haben, in Brügge nachvollziehbar. Dann ist Brügge eine Traumstadt. Im Mittelalter pulsierte hier ein mächtiges Wirtschaftsleben, war Brügge auf dem ganzen Kontinent bekannt als Tuchmacher- und Handelsstadt. Die damals noch günstige Lage zum Meer (am noch nicht versandeten Meeresarm Zwin) trug dazu bei, daß Brügge, im Schnittpunkt wichtiger Straßen und Kanäle, zu einem Umschlagplatz wurde für den Warenverkehr aus dem Mittelmeerraum nach Mittel- und Nordeuropa.

Auch deutsche Kaufleute kamen gern in diese Stadt, die außerhalb der Reichsgrenzen lag (Grafschaft Flandern zunächst westfränkisches, dann französisches Lehen). Brügge wurde zum wichtigsten Stapelplatz der deutschen Hanse und zur bedeutendsten Niederlassung deutscher Kaufleute in Westeuropa. Deutscher Zuzug kam nicht nur vom Rhein und aus Westfalen, sondern auch aus Städten wie Hamburg, Lübeck, Elbing, Danzig, Königsberg und Thorn. "Oosterlinge" wurden diese Deutschen in Brügge genannt, Menschen aus dem Osten. Als privilegierte "Ausländer" erlebten die Deutschen die dramatischen, oft blutigen sozialen und politischen Auseinandersetzungen mit, die sich im Mittelalter in dieser Stadt abspielten.

In umgekehrter Richtung zogen aus Brügges Umland während des hohen Mittelalters flämische Bauern (mit ihrer hochentwickelten Agrartechnik und ihren Kenntnissen im Deichbau und im Entwässerungswesen) in die Territorien der deutschen Ostkolonisation:"Naar oostland wellen wij rijden..." Begabte Söhne aus wohlhabenden Brügger Familien gingen gerne nach Köln, um an der dortigen Universität zu studieren. Manche Brügger Weber und Kaufleute ließen sich in deutschen Hansestädten nieder.

Im 15. Jahrhundert wurde Brügge Verwaltungszentrum des Herzogtums Burgund, wodurch der französische Kultureinfluß in der Stadt verstärkt wurde. Herzog Karl der Kühne hatte Mühe, die nach seiner Meinung dickköpfigen Flamen dieser Stadt zu bändigen. Sein Traumziel war ein riesiges Territorium von der Nordsee bis zu den Alpen, wobei er sein Auge auch auf westliche Teile des römisch-deutschen Reiches richtete. 1474/75 belagerte er mit seinen Kriegsvölkern, wozu auch Flamen aus Brügge und Umgebung gehörten, die Stadt Neuss am Rhein. Kaiser Friedrich III. eilte der Stadt mit einem Reichsheer gegen den "welschen Usurpator" aus Brügge zu Hilfe. 1477 fand Karl vor Nancy den Schlachtentod, er ruht in Brügges Onze-Lieve-Vrouw-Kerk. Durch kluge Heiratspolitik kam das burgundische Erbe an Habsburg, Brügge so in den burgundischen Reichskreis.

Der deutsche Geograph Johannes Cochläus (1479-1552) vereinnahmte die Flamen in seinem hochfliegenden deutschen Reichspatriotismus, als er schrieb: "Auf dem Festland aber ist der letzte Landstrich Deutschlands Flandern. Darinnen liegen zwei Städte, die größten sogar von ganz Deutschland, Gent und Brügge."

Im 19. Jahrhundert war Brügge zu einer abgelegenen Provinzstadt geworden. 1830 wurde hier der größte Dichter dieser Stadt geboren: Guido Gezelle, der als einziger flämischer Lyriker auch in Deutschland in größerem Umfang rezipiert wurde. Der Priesterdichter wurde von seinen geistlichen Vorgesetzten gemaßregelt, als er es wagte, seine Schüler an einem bischöflichen Gymnasium für die flämische Muttersprache zu begeistern - dies zu einer Zeit, als das belgische Establishment die Französisierung Flanderns betrieb.

In den beiden Weltkriegen kamen deutsche Soldaten als Besatzer nach Brügge, was bei manchen Bürgern Gefühle der Abneigung oder Haß hervorrief. Gleichzeitig gab es aber auch viele freundschaftliche Begegnungen, wofür ein typisches Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg steht. Als deutscher Offizier war der 1899 in Eberswalde geborene Schriftsteller Bruno Gerhard Orlick in Brügge einquartiert. Er verkehrte im Haus des Konservatoriumsdirektors Maurits Deroo. Beide Männer schätzten sich so sehr, daß Deroo 1942 ein Liebeslied Orlicks vertonte ("Und wieder ging ein Tag zur Ruh'..."). Der begeisterte Flamenfreund Orlick brachte noch 1944 in Brüssel ein Bändchen unter dem Titel "Die Drei Städte" heraus: einen Gedichtzyklus des flämischen Dichters Karel-Lodewijk Ledeganck (1805-1847) über Gent, Brügge und Antwerpen, dazu die Orlicksche Übertragung dieser Gedichte.

Die deutsch-flämische Kunstsymbiose fand ihren schönsten Ausdruck im Schaffen von Hans Memling. 1433 in Seligenstadt/Main geboren, erwarb Memling in Brügge das Bürgerrecht und wirkte bis zu seinem Tode (1494) in der dortigen Lukas-Gilde. Bald schon galt er als der bedeutendste Maler Brügges. Deutsche Brügge-Reisende, die mehr sehen möchten als eine modisch herausgeputzte Stadt, werden ins Sint-Janslitaal gehen und sich in die Szenenbilder des Ursulaschreins von 1489 vertiefen. Vielleicht spüren sie dort etwas von der Größe unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit.

Blick in den Beginenhof in Brügge: Vielfältige Beziehungen zwischen Flandern und Deutschland


 
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