© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Gepolstert erinnern
Die Vertreibung rückt in das Blickfeld der Enkel
Heinz Nawratil

Im Zuge der Liberalisierung des Sowjetsystems hat Gorbatschow einmal gefordert, die weißen Flecken in den Geschichtsbüchern zu erforschen. Zur gleichen Zeit liefen die Uhren in der Bundesrepublik verkehrt herum; im Gefolge einer falsch verstandenen "political correct-ness" wuchs langsam, aber sicher die Zahl der Tabus und der weißen Flecken in den Geschichtsbüchern.

Umso mehr mußte es überraschen, daß im vergangenen Jahr sowohl ARD als auch ZDF Dokumentationsreihen über die Vertreibung ausstrahlten, und momentan Spiegel und Bild ausführlich zum Thema berichten. Sogar Günter Grass - nicht gerade als Freund der Vertriebenen bekannt - landete mit seiner neuen Novelle "Im Krebsgang" überraschend einen Bestseller; neben den unvermeidlichen Neonazis spielt in dem Buch auch die Versenkung des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff eine Rolle. Unwillkürlich fragt man sich nach dem Hintergrund der neuen Offenheit: Moralische Neuorientierung, politisches Kalkül, Kommerz oder was? Die Antwort ist vielschichtig. Den ersten Denkanstoß gaben wohl die brutalen "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien. Die schockierenden Fernsehbilder brachten so manchen zu der Einsicht, daß das, was jetzt in Den Haag als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt wurde, vielleicht doch nicht nur die "vereinzelten Exzesse" und unvermeintlichen "Reaktionen" auf irgendwelche historischen Zusammenhänge waren, die man bei der Vertreibung der Deutschen gern vorgeschoben hatte.

Wie bei den Nachfahren der Negersklaven in den USA, so erwachte auch in vielen Enkeln der Vertriebenen das Interesse an ihren familiären Wurzeln, und manch Älterer, der in den ersten Nachkriegsjahren gezögert hatte, sich zu den nicht überall beliebten "Flüchtlingen" zu bekennen, hat nach der Integration dieser Gruppe seine Scheu verloren.

Die Mehrzahl derer, die jetzt scheinbar ihre Sprache wiedergefunden haben, handelt allerdings aus ganz anderen Motiven, wie der emeritierte Historiker Hans-Ulrich Wehler im Spiegel (Nr. 13/02) offen zugibt: "Wenn das jetzt in einem Abstand von gut einem halben Jahrhundert neu aufgerollt wird, kann das nicht schaden, denn wir haben ein zeitliches und emotionales Sicherheitspolster".

Gemeint ist hier vor allem die Sicherheit der Täter und Erben der größten Völkervertreibung der Weltgeschichte, nicht mit gerichtlicher Verfolgung oder mit Wiedergutmachungsforderungen rechnen zu müssen. Und das alles hat auch irgendwie seine Richtigkeit; Wehler weiter: "Das ist der Preis dafür, daß ein Land zweimal einen totalen Krieg riskiert." Erstaunliche Worte aus dem Mund eines Historikers. Bisher ist noch niemand auf die Idee gekommen, den ersten Weltkrieg als totalen Krieg zu bezeichnen; die deutsche Alleinschuld an diesem Krieg gilt spätestens seit Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts als überholt.

Bei dem Motivstudium ist nicht zuletzt an die kommerzielle Seite der Vertreibungsthematik zu erinnern. Grass verkaufte von seinem neuen Buch 300.000 Stück binnen sechs Wochen, ARD und ZDF erreichten mit ihren Serien sensationelle Einschaltquoten, und die parallel erschienenen Begleitbücher und Videokassetten erwiesen sich als gutes Geschäft. Die journalistische Qualität dieser Produkte stand allerdings in keinem Verhältnis zu ihrem Erfolg. In der ARD-Serie verwechselte man zum Beispiel die NS-Größen Goebbels und Goering und obendrein die Moskauer Außenminister Molotow und Litwinow; die ZDF-Serie übernahm ungeprüft örtliche Propaganda, wie zum Beispiel die Legende einer Tschechenvertreibung aus dem Sudetenland im Jahre 1938 - in Wirklichkeit kehrten nur Besatzungstruppen und zugezogene Verwaltungsbeamte heim.

Demgegenüber wirkt die Spiegel-Dokumentation sorgfältiger und differenzierter; die Haßpropaganda und die mörderischen Tagesbefehle der Roten Armee werden ebensowenig verschwiegen wie frühe Vertreibungspläne und der Terror als kühl kalkuliertes Mittel der ethnischen Säuberung. Allerdings werden deutsche Opferzahlen gern abgerundet, während zum Beispiel polnische und russische aufgerundet werden, die "Sudetendeutsche Partei" bezeichnet man als "nationalsozialistisch", obwohl sie mit der NSDAP nichts zu tun hatte, und ab und zu schimmern Kollektivschuld und der alte Haß auf "amoklaufende Vertriebenenfunktionäre" durch.

Mit Humanitätsduselei hat die deutsche Perestroika nur bedingt zu tun. Aber immerhin wird zum ersten Mal sei 40 Jahren menschliches Leid wieder von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen - allerdings nur mit jener Mischung aus Mitleid und Fatalismus, die man den Opfern von Erdbeben und anderen Naturkatastrophen entgegenzubringen pflegt. Sollte es in der Folge vielleicht doch noch dazu kommen, daß man die Vertreibungsopfer als Verbrechensopfer begreift, dann wäre das tatsächlich ein Schritt auf dem Weg zu einem humanerem Denken.

 

Dr. Heinz Nawratil, geboren 1937 in Zauchtel / Mähren, 1945 vertrieben. Mitarbeit bei der "Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte" und der "Gesellschaft für bedrohte Völker"; in seinem "Schwarzbuch der Vertreibung" (Universitas, 2001) erhellt der Jurist die Vertreibung und den Völkermord an den Deutschen von 1945 bis 1948.


 
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