© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Die "rote Jungfer" sammelt Proteststimmen
Frankreich: Arlette Laguiller vom trotzkistischen Arbeiterkampf kandidiert wieder bei der Präsidentschaftswahl
Charles Brant

Sie tritt zum fünften Mal bei den Präsidentschaftswahlen an und hatte keinerlei Schwierigkeiten, bis zum 2. April die notwendigen Unterschriften zu sammeln. Umfrageergebnissen zufolge liegt Arlette Laguiller mit neun Prozent der Stimmen inzwischen an vierter Stelle - hinter Amtsinhaber Jacques Chirac, Lionel Jospin und Jean-Marie Le Pen, aber noch vor dem "Linksnationalisten" Jean-Pierre Chevènement oder dem Grünen Noël Mamère.

Die Franzosen kultivieren das Paradoxe. Sie finden überhaupt nichts dabei, den "Extremismus" in anderen EU-Ländern wie Österreich oder Italien zu verdammen, während sie sich selber von Kommunisten mitregieren lassen. Sie verteufeln den "Rechtsextremisten" Jean-Marie Le Pen, regen sich aber weder über die stalinistische Vergangenheit des KP-Chefs Robert Hue oder die Untergrundeinsätze auf, die Premier Lionel Jospin als trotzkistischer Kader ableistete (die JF 33/01berichtete). So überrascht es wenig, daß man Arlette Laguillier, die am 21. April als trotzkistische Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen antritt, nichts als Bewunderung und Wohlwollen entgegenbringt: "Arlette est chouette" - Arlette ist toll heißt der Reim. Sie wird von sämtlichen politischen Berichterstattern umworben und darf sich auf die Unterstützung von Madame de Fontenay, der Organisatorin der "Miss France"-Wettbewerbe, berufen. Le Monde widmete ihr eine ganze Seite, und sogar der konservative Figaro bekundete der "kleinen unbezwinglichen Frau" seinen Respekt. Die Beliebtheit der 62jährigen "roten Jungfer" ist so groß, daß sie allerorten - auf der Straße wie in den Vorstandsetagen - nur als "Arlette" bekannt ist.

1974 sorgte sie für eine kleine politische Sensation, als sie nach Georges Pompidous Tod im Präsidentschaftswahlkampf einsprang. Mit gerade 33 Jahren und als erste weibliche Kandidatin gewann sie 2,3 Prozent der Stimmen. Sieben Jahre später erreichte sie noch einmal dieselbe Prozentzahl. 1988 war ihre Popularität gesunken, und sie kam bei Umfragen nur auf 1,9 Prozent, weigerte sich aber, zugunsten des Sozialisten François Mitterrand von einer Kandidatur Abstand zu nehmen. 1995 nahm sie mit über 1,6 Millionen Stimmen (5,3 Prozent) die Hürde der Wahlkampfkostenrückerstattung - ein Ergebnis, das sie bei den Europawahlen 1999 wiederholen konnte. Im Straßburger EU-Parlament sitzt sie in der "Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke" - zusammen mit den sieben deutschen PDS-Abgeordneten, der schwedischen der Linkspartei (Vänsterpartiet) sowie den französischen und italienischen Alt-Kommunisten. Seit 1998 ist sie außerdem Mitglied des Regionalrats von Ile-de-France.

Bei den ersten Präidentschaftswahlen im neuen Jahrtausend mischt sie mit ihrem alten Slogan "Toujours le camp des travailleurs - Immer auf der Seite der Arbeiter" wieder kräftig mit. Ihre Gesichtszüge zeigen, daß sie die Sechzig inzwischen überschritten hat, aber sie trägt immer noch dieselbe Kluft des "militanten Proletariers" und denselben jungenhaften Haarschnitt. Nach wie vor hat sie für Make-Up und jedes andere Zeichen von Weiblichkeit nur Verachtung übrig. Sie spricht immer noch wie vor dreißig Jahren: in einer Mischung aus Vereinfachungen, Flüchen und dem geradezu religiösen Sendungsbewußtsein des Revolutionärs - einer Figur, die genauso aus der Mode gekommen ist wie ihre Rhetorik. Doch davon läßt sich Arlette nicht beirren, sondern denunziert eifrig den "Profit", den "bankrotten Kapitalismus", die "auf den Tresoren sitzende Bourgeoisie" und fordert nicht minder eifrig ein "Entlassungsverbot", "die Aufhebung des Bankgeheimnisses für Großunternehmer" und die "Besteuerung des Kapitals". Neu sind lediglich ihre Tiraden gegen die Globalisierung. Die pensionierte Bankangestellte von Crédit Lyonnais gibt sich bemüht proletarisch. Sie redet gerne von "Arbeitern und Arbeiterinnen" und wohnt in Les Lilas weit vor den Toren von Paris in einem Hochhaus, in dem der Aufzug angeblich nur selten funktioniert. Ihre Wahlkämpfe bestreitet sie in einem vergessenen Frankreich der kleinen Leute. Sie hält Versammlungen in Ortschaften ab, in denen andere Kandidaten sich niemals blicken lassen. Ihr Publikum besteht aus Busfahrern, Angestellten im öffentlichen Dienst, dem Personal der großen Supermärkte, Arbeitern und Arbeitslosen - und nicht zuletzt aus jungen Wählern, die der seit 1981 (mit kurzer Unterbrechung) mitregierenden Kommunistischen Partei (PCF) den Rücken gekehrt haben. Von dem Intellektualismus der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR), der rivalisierenden Trotzkisten-Organisation, ist hier nichts zu spüren. Arlettes Genossen vom Lutte Ouvrière (LO) verteilen ihre Pamphlete an den Fabrikausgängen und den Hochhaussiedlungen. Jede wirtschaftliche Krise wissen sie sich sofort zunutze zu machen. In Regionen, in denen die Armut um sich greift, führen sie einen permanenten Feldzug. Einige von ihnen sitzen sogar in Stadt- und Regionalräten.

Seit 1968 ist Arlette Laguillier Mitglied beim Lutte Ouvrière dabei. Der "Arbeiterkampf" ist eine der zahllosen nebulösen trotzkistischen Organisationen, die zwischen den Weltkriegen in Frankreich entstanden sind. Aus der Internationalistischen Kommunistischen Union hervorgegangen, beruft die Partei sich auf die Reinheit der trotzkistischen Lehre. Arlette und ihre Kameraden verehren den 1929 von Stalin aus der Sowjetunion ausgewiesenen "permanenten" Revolutionär Leo Trotzki (1879 - 1940), den sie liebevoll "den Alten" nennen. Ihre Bewegung ist klein, aber ungemein aktiv und stark hierarchisch aufgebaut. Die Parteistruktur ist meilenweit von der elementaren Transparenz entfernt, die in einer Demokratie erforderlich ist. Eigenen Angaben zufolge hat LO 7.500 Mitglieder. Der harte Kern besteht aus etwa tausend Aktiven. Ihr Chef - der 73jährige Robert Barcia alias "Hardy" - tritt niemals in der Öffentlichkeit auf. Wie eine Sekte hüllt sich die Organisation in Geheimnisse. Sie benutzt ein Postfach anstelle einer Adresse und hält ihre Versammlungen hinter verschlossenen Türen ab. Ihre Ideologie beruft sich auf die 1938 gegründete (trotzkistische) IV. Internationale und ist Marxismus-Leninismus pur. Wenngleich Arlette entsprechenden Fragen geschickt ausweicht, bilden die Revolution und die Diktatur des Proletariats die erklärten Ziele ihres Kampfes. LO befürwortet die Einbürgerung der sans-papiers, der illegal eingewanderten "Papierlosen", will die Sicherheitspolitik abschaffen und die Kontrolle in die Hände des Volkes legen. Die französische Presse hütet sich dennoch, sie als "linksextremistisch" zu bezeichnen, und zieht den schmeichelhafteren Begriff gauche de la gauche vor: "links der Linken". Der Rechten bringen die Genossen vom LO nichts als Haß entgegen. Die Sozialdemokratie verachten sie, und Jospins "pluralistisch linke" Regierung ist in ihren Augen ein Verein Abtrünniger. Die Sozialistische Partei bezichtigen sie "zentristischer" oder "reformistischer" Tendenzen; Robert Hue und die kommunistischen Kabinettsmitglieder müssen sich gar den Vorwurf gefallen lassen, "Verräter" und "Kapitalistenfreunde" zu sein. In ihrem aktuellen Buch "Mon communisme" macht Arlette kein Hehl aus ihrer Überzeugung, daß ihr Kommunismus die "einzige Möglichkeit" ist, "heutzutage Kommunist zu sein": "Es gibt in diesem Land Zehntausende militanter Proletarier, die von der Entwicklung ihrer Partei enttäuscht sind.

Viele von ihnen haben ihr Parteibuch abgegeben, andere haben es behalten, ohne noch daran zu glauben." Diese Desillusionierten lädt sie ein, die "große Arbeiterpartei wiederaufzubauen". In der Öffentlichkeit läßt Arlette nie den leisesten Zweifel aufkommen, daß sie auf dem richtigen Weg ist. Als Beweis führt sie die zahllosen Genossen an, die aus der Kommunistischen Partei ausgetreten und ihrer Organisation beigetreten seien. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen wird zeigen, wie weit es mit ihren Erfolgen her ist.

Im Gegensatz zu Front National-Chef Jean-Marie Le Pen und dessen einstigen Kronprinz Bruno Mégret (seit 1998 Mouvement National Républicain/MNR) hatte Arlette Laguiller kein Problem, 500 gewählte Volksvertreter zusammenzutrommeln, deren Unterschriften für eine Kandidatur erforderlich sind. Experten rechnen damit, daß sie sehr viel besser abschneiden wird als der kommunistische Kandidat Robert Hue. Ihre Klientel besteht aus (oft weiblichen) "Protestwählern", von denen manche sogar aus der Stammwählerschaft des Front National kommen werden. Damit droht Frankreich die Radikalisierung von links: ein starker trotzkistischer Flügel und ein Präsident Jospin, der seine politische Laufbahn in derselben Ecke begann.

Aktuelle Wahlplakate von Arlette Laguiller: Mit Parolen wie "Stets auf der Seite der Arbeiter" (oben) oder "Chriac, Jospin, Finger weg von unseren Renten!" will die 62jährige Trotzkistin vor allem die "kleinen Leute" und ehemalige Wähler der Kommunistischen Partei erreichen

Arlette Laguiller, "Mon communisme": Für 15 Euro sind die Bekenntnisse der Trotzkistin zum Klassenkampf nachzulesen.


 
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