© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Kapitalistische Sorgen der Kommunisten
China: Trotz rasantem Wirtschaftswachstum steigt die Zahl der Armen / Kluft zwischen Land- und Stadtbevölkerung
Kai-Alexander Schlevogt

In China erzählt man sich die Geschichte eines arbeitslosen Familienvaters aus einer nördlichen Industriestadt, der seine Kinder mit einem langersehnten Sonntagsbraten erfreute. Diesen hatte er mit seinem letzten Geld erstanden - und aus Verzweiflung vergiftet. Solche Tragödien sind symptomatisch für die sozialen Probleme im Reich der Mitte, die von den Erfolgsgeschichten verdeckt werden.

Das seit zwei Jahrzehnten rasant wachsende nominale Bruttosozialprodukt muß daher von Inflation, statistischen Übertreibungen und Überproduktion bereinigt werden. Das verbleibende reale Wirtschaftswachstum besagt nur, daß sich der volkswirtschaftliche Kuchen vergrößert, von dem sich die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit speisen. Steigende reale Pro-Kopf-Einkommen stellen einen allgemeinen Anstieg des Lebensstandards dar, der aber nicht gleichmäßig verteilt sein muß. Wer letztendlich wieviel von den geschaffenen Gütern und Dienstleistungen erhält, hängt von den individuellen Reallöhnen ab, die die Verteilung des Wohlstandes widerspiegeln.

Ungleichheit hat System im sozialistischen China. Der pragmatische Begründer der Reform- und Öffnungspolitik, Deng Xiaoping, verschrieb 1978 als Wirtschaftskur schlicht solche Rezepte, die sich in der (kapitalistischen) Praxis bewähren. Schwarze und weiße Katzen waren für ihn gleich gut, solange sie Mäuse fingen. Er lehrte sein in Bildern denkendes Volk, daß einige Menschen "schneller reich werden müßten".

Im wiedererwachenden Reich der Mitte verbreitete sich Armut mindestens genauso schnell wie Reichtum. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch verschiedene geographische Einheiten und soziale Gruppen. Schablonen aus anderen Entwicklungsländern ("die gesamte Landbevölkerung ist arm" oder "nur die Ungebildeten kämpfen ums Überleben") sind aber unbrauchbar.

Frühe Reformbemühungen, die sich auf den Aufbau von Leichtindustrieunternehmen auf dem Lande konzentrierten machten eine Vielzahl ländlicher Unternehmer reich. Gleichwohl hinken die Löhne der Masse der Landbevölkerung denen der Städter hinterher. Im Jahre 2001 betrug das Wachstum der ländlichen Nettoeinkommen mit 4,2 Prozent nur die Hälfte des Wachstums in den Städten.

50 Millionen arme Stadtbewohner

Aber auch die Armut in den Städten nimmt zu. Schätzungen des Zentrums für Sozialforschung an der Pekinger Volksuniversität gingen im Jahre 1994 von 50 Millionen in Armut lebenden Stadtbewohnern aus. Bei einer Stadtbevölkerung von 296 Millionen Menschen (Volkszählung des Jahres 1990) wäre damit fast jeder fünfte Stadtbewohner arm. Die Zahlen werden sich in den vergangenen Jahren noch erhöht haben. Zudem stehen immer mehr Menschen an der Schwelle zur Armut. Da es keine demokratischen Mechanismen zur Debatte und Lösung der Probleme gibt, entladen sich die Konflikte häufig durch Gewalt.

Die menschlichen Tragödien sind kein Problem der KP alleine oder eine china-spezifische Herausforderung. Es handelt sich vielmehr um die zwei grundlegenden Probleme des Kapitalismus: Zunehmende Ungleichheit und inhärente Instabilität. Beispielsweise erhöhte sich in den achtziger Jahren das Durchschnittsgehalt eines Vorstandsvorsitzenden auf der Fortune-500-Liste von dem 35fachen auf das 157fache eines einfachen Arbeiters.

Neben den Problemen des Kapitalismus - die Kapitalkonzentration führt zur destabilisierenden Wohlstandskonzentration - machen in China besondere Faktoren wenige Menschen reicher und viele ärmer. Rote Eminenzen mit "Guanxi" (Beziehungen) nutzen ihr Sozialkapital, um Vermögen zu erwerben, beispielsweise durch privilegierte Informationen auf dem Aktienmarkt.

Gleichzeitig machen viele Unternehmen, besonders im Staatssektor, Verluste. Ein Grund ist, daß vormals subventionierte Betriebsmittel zu Marktpreisen eingekauft werden müssen und so die wahre wirtschafliche (Fehl-)Leistung enthüllen. Die Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit vernichten Kaufkraft und schwächen im dynamischen Multiplikatorenverfahren ganze Regionen. Bankrotte Unternehmen vergüten Arbeiter meist nur mit einer geringen einmaligen Abschlagszahlung, die in der Regel 30.000 Yuan (etwa 3.700 Euro) beträgt. Danach erfolgen keine Zahlungen mehr, auch nicht vom Staat.

Wer krank wird, borgt von der Familie, bis auch diese pleite ist. Renten werden aus den laufenden Einnahmen von Unternehmen bestritten. Wenn diese in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, verarmen auch die Rentner. Dies wirkt sich besonders negativ aus, da durch Geburtenkontrolle das Abhängigkeitsverhältnis (die Zahl der Rentner im Verhältnis zu den Erwerbstätigen) ständig steigt.

Zudem fallen die Subventionen für Konsumenten weg. Wenn beispielsweise Mieten und Nebenkosten wie im Westen plötzlich einen Großteil des Einkommens verschlingen, wird die Not groß. Eine Konsequenz der Verteuerung sind steigende Nominallöhne, die Chinas Wettbewerbsvorteil - billige Löhne - untergraben und so weitere Unternehmenspleiten verursachen. Der Teufelskreis ist geschlossen.

Gleichzeitig drängen verarmte Bauern in die Städte. Eine Massenauswanderung, die einer Völkerwanderung gleicht, setzt sich vom armen Westen in die reichen Oasen im Südosten in Bewegung. Es bildet sich ein "Lumpenproletariat", das für wenig Geld zu allem bereit ist. Denn keiner möchte zurück auf das Land. Armutsviertel lagern sich häufig wie ein Ring um die Städte. Solche Ghettos, die in anderen Entwicklungsländern stark verbreitet sind, wurden früher durch das restriktive Einwohnermeldesystem (Hukou) aber weitgehend vermieden.

Chinas Eintritt in die Welthandelsorganisation wird alle diese Probleme verschlimmern - sowohl auf dem Lande als auch in den Städten - und könnte der größte Fehler der KP sein. Die sozialen Spannungen sind der Preis nicht durchdachter Deregulierung, und Liberalisierung. Durch die intelligente staatliche Lenkung und den leistungsorientierten Protektionismus, wie beispielsweise die in den Tigerstaaten praktizierte Export-Substitution, hätte dies vermieden werden können. Karl Marx würde heute dem frühkapitalistischen China vermutlich den Kommunismus wärmstens empfehlen.


 
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