© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Pankraz,
Wilhelm Busch und die fatalen Tugendbolde

Es wird Zeit, meinte ein Pädagoge im Lande Brandenburg, daß endlich das Problem des Tugendbolds in den Ethikunterricht aufgenommen wird. Man kann das Gutsein, das Richtighandeln, das Moralvorzeigen auch übertreiben, und dann sind die Folgen oft noch schlimmer, als wenn die Achse des Bösen zuschlägt. Gott schütze uns vor den Tugendbolden!

Der Mann hat nur allzu recht. Bisher ging es im Ethikunterricht immer nur um das sogenannte ethische Minimum. Die Kinder erfuhren, daß man seinem Nächsten nicht nach dem Leben und nach dem Eigentum trachten soll, daß man nicht hetzen, nicht lügen, nicht fluchen und auch nicht ehebrechen soll. Aber ein Gebot blieb völlig unbesprochen, nämlich das Gebot: "Du sollst nicht übertreiben, auch nicht beim Gut-sein!". So wie es ein ethisches Minimum gibt, so gibt es auch ein ethisches Maximum, jenseits dessen das Gutsein aufhört. Auch das muß man ausdrücklich lernen.

Der gesunde Menschenverstand weiß darüber schon eine Menge und drückt es auf seine Weise aus, in Sprichwörtern, populären Redeweisen, Komödien, Rüpelspielen. Der Tugendbold, also der Übertreiber der Tugendhaftigkeit, ist ein beliebter Gegenstand dieser Genres, und er kommt dort in der Regel ganz schlecht weg, rangiert faktisch zusammen mit Mördern und Heuchlern am untersten Ende der Skala der Abscheulichkeiten.

Nietzsche hat diese Spezies sehr boshaft charakterisiert. Die Tugendbolde sind keine Heuchler, sagt er, sondern es sind Schauspieler, und zwar schlechte Schauspieler, die in schier unerträglicher Weise outrieren, übertreiben, dick auftragen. Zitat Nietzsche (aus der "Genealogie der Moral"):

"Diese Leute sind krank vor lauter Moral. Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens darstellen - das ist der Ehrgeiz dieser Kranken. Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz! Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend, nachgemacht wird. Sie haben die Tugend ganz und gar für sich in Pacht genommen. 'Wir allein sind die Guten, die Gerechten', so geben sie uns zu verstehen, 'wir allein sind die homines bonae voluntatis'. Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen vor uns."

Im normalen Leben gehen uns die Tugendbolde glücklicherweise meistens nur auf die Nerven und stören nicht allzu sehr, in der Politik freilich werden sie gemeingefährlich, indem sie versuchen, den anderen ihre Hypermoral mit Machtmitteln aufzudrängen, unter Hinnahme auch allerschwerster Verluste. Sie wollen dann überall die "reine" Moral durchsetzen, sie "verwirklichen", wollen gleichsam das Himmelreich auf Erden errichten, zumindest einen tiptoppen Gottesstaat - und errichten in Wahrheit das Reich der Hölle, bestenfalls einen Staat der Heuchler und der egoistischen Abzocker.

Zum wahren Gutsein gehört eben auch und sogar in vorderster Linie die Einsicht oder zumindest das Gespür dafür, daß "das" Gute, das volle Summum Bonum, gar nicht zu haben ist, daß es nie um das Beste, sondern allenfalls um das Zweitbeste gehen kann.

Hans Jonas hat diesen Gedanken einst in Bezug auf technische Projekte und wissenschaftliche Resultate überzeugend ausgeführt, er gilt jedoch generell und nicht zuletzt bei anstehenden ethischen Entscheidungen, seien es nun Entscheidungen über das Lebensrecht von Embryos oder über das Bombardieren mutmaßlicher Guerilla-Lager.

Wir entscheiden stets aus einer ganz konkreten, je einmaligen Situation heraus, und in dieser Situation laufen nicht nur zwei Hauptlinien zusammen, die für sich genommen ein Entweder/Oder rechtfertigen könnten, sondern zusätzlich noch unzählige Nebenlinien, die den zur Behandlung anstehenden Fall spezifisch einfärben und ihn gerade in Hinblick auf Gerechtigkeit, also in der Moralität, unübersichtlich und riskant machen. Das bedeutet nicht, daß wir in die Entscheidungsunfähigkeit getrieben würden, es bedeutet aber, daß sich jeder seriöse Entscheider der letztlichen Unzulänglichkeit seines Handelns bewußt sein sollte und daß sein schlechtes Gewissen vernehmbar schlagen sollte.

Der typische Tugendbold spürt seine Unzulänglichkeit gerade nicht. Sein schlechtes Gewissen meldet sich gerade nicht. Er hat immer ein gutes Gewissen, hat er es doch an der Meßlatte der ihm einverseelten Moralregeln getreulich ausgerichtet und eifrig blankgeputzt. Nun hält er sich in aller Gottesfürchtigkeit für den Größten und nimmt sich das Recht heraus, definitive Urteile zu fällen. Er ist, bei Lichte betrachtet, eine fürchterliche und doch auch wieder komische Figur, ein Hampelmann des Guten hinter zwiefach bemalter Maske, auf der einen Seite drohend und erbarmungslos zähnefletschend, auf der anderen dümmlich grinsend, so daß man über ihn lacht und sich gleichzeitig vor ihm fürchtet.

Es dürfte nicht allzu schwer sein, den Kindern im Ethikunterricht den Tugendbold als Schreck- und Negativfigur plausibel zu machen, ohne damit gleich den Zweck des Unterrichts, die überzeugende Lehre vom Guten, zu unterminieren. Kinder lieben scharfe Konturen und klare Verhältnisse, sie haben aber auch ein Gefühl für Übertreibungen und daraus erwachsende Gefahren. Ohnedies lehrt man sie das Tun des Guten ganz überwiegend nach der berühmten Formel von Wilhelm Busch: "Das Gute, dieser Satz steht fest,/Ist stets das Böse, das man läßt".

Das Böse ist das Originäre, das Naturwüchsige, das sich jeder sich entwickelnden Form und Norm widersetzt. Gut und Böse stehen in einer komplizierten Verbindung, in der die Pole manchmal, vielleicht sogar oft, die Plätze wechseln. Das Problem ist, den glühheißen Polen, an denen man sich nur verbrennen kann, nicht zu nahe zu kommen.


 
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