© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Noch nicht zukunftsfähig
Ukraine: Nach der Parlamentswahl bleiben die Reformer kraftlos
Carl Gustaf Ströhm

Führt die Befolgung westlich-demokratischer Spielregeln in manchen postkommunistischen Staaten geradewegs in den Zustand der Unregierbarkeit? Die jüngsten Wahlen zum Parlament (Werkhowna Rada) der Ukraine brachten ein seltsames Ergebnis hervor, das sich auf unterschiedliche Weise interpretieren und aus dem sich kein Trend für die weitere Entwicklung des zweitgrößten post-kommunistischen Landes herauslesen läßt.

Zwar wurde das vom ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Juschtschenko geführte oppositionelle Wahlbündnis "Unsere Ukraine" mit 23,5 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Die bisher führenden Kommunisten (KPU) rutschten mit 20 Prozent auf Platz zwei, der vom umstrittenen Staatspräsidenten Leonid Kutschma favorisierte "Block für eine vereinigte Ukraine" kam auf nur 11,8 Prozent.

Dennoch bleibt der pro-westliche Reformer Juschtschenko zu schwach, um eine Regierung - dazu noch gegen den Willen des "Paten" und Übervaters Kutschma - bilden zu können. Die drei Oppositionsfraktionen in der "Rada", dem Obersten Rat - Juschtschenkos Leute, die Liste der Oppositionspolitikerin Julija Timoschenko (7,2 Prozent) und die oppositionellen Sozialisten - erreichen nur 157 von insgesamt 450 Mandaten. Die Kutschma ergebenen Parteien haben 192 Sitze gewonnen, nicht zuletzt über zahlreiche Direktmandate.

So ist faktisch eine Patt-Situation zwischen dem Kutschma-Lager und der Opposition entstanden. Den Ausschlag dürften zahlreiche unabhängige Abgeordnete geben, die direkt in den Wahlkreisen gewählt wurden. Die meisten von ihnen gelten eher als Kutschma-Getreue - was bedeutet, daß die Parlamentswahlen nichts an der Machtposition des Präsidenten geändert haben. Zugleich wurden wieder einmal die großen regionalen Unterschiede zwischen der einst sowjetischen und bis heute stark vom großrussischen Element geprägten Ost-Ukraine und der "katholisch, westlich, unierten", von Österreich und Polen geprägten West-Ukraine sichtbar. Im Westen errang der Reformer Juschtschenko einen weitaus höheren Stimmenanteil als im Osten.

Kutschma erklärte, er sei zur Zusammenarbeit mit allen "konstruktiven" Parteien bereit. Wer aber "konstruktiv" ist - das entscheidet letztlich der Präsident, der selber in einige Kontroversen verwickelt sein soll (zuletzt brachte man die Ermordung eines regierungskritischen Journalisten, Georgi Gongadse, mit seinem Namen in Verbindung). Seiner Machtposition hat das bisher nicht geschadet.

Die Ukraine wird auch nach mehr als einem Jahrzehnt der Unabhängigkeit noch weitgehend von "Seilschaften" und Oligarchen regiert, die sich zum Teil schon seit sowjetischen Zeiten gegenseitig die Bälle zuspielen. Nationalbewußte Ukrainer blicken mit Sorge auf die sich verstärkende Position Moskaus in der Auseinandersetzung um das Land, die jetzt begonnen hat.

Internationale Beobachter der Parlamentswahl bezeichneten die Verhältnisse in und um die Wahllokale als teilweise chaotisch. Die Opposition spricht von Wahlbetrug: bis zu zwölf Prozent der Stimmen seien fehlerhaft ausgezählt oder unterschlagen worden. Aber das Chaos gehört gewissermaßen zum ukrainischen Alltag - und niemand denkt ernsthaft daran, deshalb die Wahl anzufechten. Bleibt die Tatsache, daß eines der an landwirtschaftlichen und industriellen Möglichkeiten reichsten Länder Europas weiter zwischen Hammer und Amboß verharrt. Die Zukunft der Ukraine hat noch nicht begonnen. 


 
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