© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Post aus Estland
Carl Gustaf Ströhm

Wer es heutzutage wagt, in den Schaumwein der Europa-Begeisterung auch nur einige Tropfen Skepsis zu gießen, der gerät leicht in den Ruf eines Spaßverderbers oder gar üblen Reaktionärs. Dennoch sollte man sich vor lauter Enthusiasmus nicht Augen und Ohren verschließen lassen.

So wichtig es zum Beispiel ist, den Völkern Mittel-, Ost- und Südosteuropas einen Rückhalt im Westen zu verschaffen, so fragwürdig erscheint ein "Groß-Europa", in dem Brüssel vom Nordkap bis Sizilien und vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer von Eurokraten und einem durch die Großmächte beherrschten Apparat regiert wird. Schon im Kosovo und in Bosnien hat sich gezeigt, daß ein politisch-institutioneller "Überbau", der vom Westen mit seinen andersartigen Voraussetzungen aufgezwungen wurde, mehr Schaden als Nutzen stiften kann. Hinter einer Kulisse bombastischer Erfolgsmeldungen westlicher Emissäre und hoher Repräsentanten tun sich dann wahre Abgründe auf.

Dieser Tage flatterte ein Brief aus dem fernen Estland auf den Schreibtisch des Chronisten. Verfasser war eine alte Dame, die als junge Frau zur Zeit der sowjetischen Okkupation bei einer Massendeportation nach Sibirien, in den Gulag, verschleppt wurde und erst nach vielen schrecklichen Jahren heimkehren durfte. Dieser gescheiten Frau, die während der Sowjetzeit großen persönlichen Mut bewies, kann niemand vorwerfen, "anti-europäisch" zu sein. Und doch verriet ihr Brief eine tiefe Skepsis gegenüber diesem Europa, wie es sich den Aufnahmekandidaten in seiner Brüsseler Gestalt darbietet. Die alte Dame schreibt über die Situation in Estland: "Was müssen wir tun? Wer oben sitzt, ob in der Regierung oder in der Opposition, ob Kommunist oder antikommunistischer Widerstandskämpfer - alle marschieren in die EU..."

Aber, so setzt sie fort: "Im Volk gibt es immer mehr Skepsis." Die angekündigte Reduzierung der EU-Zahlungen für die Landwirtschaft der Aufnahmeländer habe wie ein Schock gewirkt. "Wie sollen wir uns nach einem Beitritt der Überschwemmung durch billige EU-Produkte erwehren?", fragt die Briefautorin. Hohe Zölle seien der einzige logische Ausweg - doch das werde natürlich nicht zugelassen. "Aber in diesem Fall wird das für uns hier im Norden, mit dem sich verschlechternden Klima, den Todesstoß bedeuten."

Die politisch-gesellschaftliche Lage in Estland, das ja sonst als "Musterschüler" unter den Aufnahmekandidaten gibt, schildert die Verfasserin mit folgenden Worten: "Es sieht bei uns heute traurig aus. Der neue Präsident (Arnold Rüütel, seinerzeit Vorsitzender des Obersten Sowjets der Estnischen Sowjetrepublik) scheint noch schwächer, als es anfangs aussah. Um solch einen sammeln sich immer die entsprechenden Leute. Und der (neue) Bürgermeister von Tallinn/Reval fegt alle Andersdenkenden weg und setzt überall seine Parteimitglieder ein ..."

"Zwanzig- bis zweiundzwanzigjährige Knaben und Mädchen fungieren als Geheimräte, die ganze Familie, auch Boyfriends und entfernte Verwandte finden so gutbezahlte Stellungen", heißt es in dem Brief über die neue post-kommunistische Ämterpatronage. "Wir sind wohl nie so tief gesunken, was die Ethik betrifft", meint die alte Dame und kommt dann zur Schlußfolgerung: "Ich fürchte, es wird ein paar Jahre dauern, bis die jetzt Regierenden sich derart blamieren, daß neue Kräfte aufkommen."

Bleibt die Frage: War die nicht nur in Estland spürbare Enttäuschung unvermeidbar - oder hat der Westen etwas falsch gemacht?


 
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