© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
"Wir sollten uns nicht einmischen"
Peter Scholl-Latour über ein halbes Jahr Krieg gegen den Terror, die Krise in Palästina und die Gefahr für Europa
Moritz Schwarz

Herr Professor Scholl-Latour, im vergangenen September haben Sie in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT mit Blick auf den damals bevorstehenden Angriff auf Afghanistan prophezeit: "Die Amerikaner werden diesen Feldzug nicht gewinnen." Welches Resümee ziehen Sie heute?

Scholl-Latour: Natürlich haben die Amerikaner zunächst beachtliche Waffenerfolge erzielt, und ich mußte mich damals mit kritischen Kommentaren zurückhalten, damit nicht der Eindruck entsteht, ich würde die Niederlage der Amerikaner wünschen. Aber ich bin nicht anderer Meinung als damals, denn als die Sowjets 1979 in Afghanistan einmarschierten, haben sie das auch in einer für damalige Verhältnisse vorbildlichen Operation getan: Im Handstreich wurden die Städte und die Grenzübergänge besetzt und obendrein der ihnen nicht genehme afghanische Regierungschef Hafizullah Amin gefangengesetzt und liquidiert. Damals war man beeindruckt und es hieß anerkennend, wenn das mal die Amerikaner in Vietnam auch so gemacht hätten. Aber daran erinnert sich heute natürlich keiner mehr. Wie der Afghanistan-Feldzug schließlich aber ausging, ist ja bekannt. Zum falschen Eindruck hat aber auch das militärisch dumme Verhalten der Taliban beigetragen, das übrigens gar nicht so verwunderlich ist, da die Taliban im Gegensatz zu den al-Quaida-Anhängern zutiefst ignorante Menschen sind. In ihren festen Stellungen bei Kundus und Bagram hätten sie vielleicht der Nordallianz widerstehen können, aber gewiß nicht der Feuerkraft der amerikanischen Luftwaffe. Wenn von der Uneinnehmbarkeit Afghanistans die Rede war, dann war der Krieg auf dem Land, in den Bergen gemeint und nicht die Eroberung Kabuls und der Städte. Tatsächlich endet heute das von der afghanischen Übergangsregierung kontrollierte Gebiet auch schon einige Kilometer hinter der Kabuler Stadtgrenze.

Das heißt, die siegreichen Flugzeugflotten der Amerikaner mit ihren Super-Bomben lenken den Blick von den tatsächlich erreichten Zielen ab?

Scholl-Latour: In gewisser Weise ja. Die Mujahedin haben den Sowjets und die Vietnamesen den Amerikanern nur widerstehen können, weil sie immer auszuweichen wußten. Das Bild von vorwärts stürmenden Vietcongs, das heute gerne in US-Filmen gezeigt wird, ist völlig falsch. Tatsächlich war damals ein Vietcong, der gesehen wurde, ein toter Vietcong. Genauso überzogene Vorstellungen herrschen aber auch über die al-Quaida-Kämpfer. Die als uneinnehmbar bezeichneten, vollklimatisierten Kasematten im Tora-Bora-Massiv, von denen bei uns in der Presse zu lesen war, stellten sich doch nur als die üblichen Höhlen heraus, und statt Biowaffen fand man darin nur Kalaschnikow-Gewehre. Aber wenn man die jüngsten Nachrichten aus Afghanistan hört - die Briten haben offenbar eine neue Operation begonnen -, dann zeigen sich alle Anzeichen für einen beginnenden Abnutzungskrieg.

Wie sicher sind dann die deutschen Soldaten in Kabul?

Scholl-Latour: Ich halte die dort stationierten deutschen ISAF-Truppen im Grunde für gefährdeter, als die im Kampfeinsatz stehenden KSK-Elitekämpfer der Bundeswehr. Die kennen wenigstens ihre Situation, während die Garnison in Kabul mit ihren Patrouille-Aufträgen völlig exponiert ist. Mich würde nicht wundern, wenn die Interimsregierung nicht einmal ihre eigenen Polizei- und Armeekräfte unter Kontrolle hat.

Sie sprechen von einem sich eventuell ankündigenden Abnutzungskrieg. Dazu gehören aber kontinuierliche Verluste an Männern, die die abzunutzende Armee demoralisieren. Bislang haben die Amerikaner lediglich acht Soldaten verloren.

Scholl-Latour: Auch in Vietnam waren die Verluste durch den Vietcong gar nicht so groß. Viele der GIs kamen bei Unfällen oder durch eigenes Feuer, durch eigene Bomber oder Artillerie um. So weit wird es aber in Afghanistan gar nicht kommen. Die USA haben hier lediglich 3.000 bis 4.000 Mann stationiert, damit können sie das Land gar nicht besetzen und folglich auch keinen konsequenten Krieg führen.

Also doch kein Abnutzungskrieg?

Scholl-Latour: Sobald die Amerikaner und ihre Alliierten ihre gut verschanzten Stützpunkte verlassen und in die Berge gehen, durchaus. Das werden sie aber vermutlich nicht tun, denn sie haben gelernt, und wenn es eine Commando-Operation in den Bergen per Hubschrauber gibt, dann nach der Methode search and destroy. Die Verluste der Sowjets haben damals begonnen, als die Mujahedin amerikanische Boden-Luft-Raketen vom Typ "Stinger" erhielten und die russischen Konvois rettungslos in Hinterhalte gerieten.

Also hat man nicht mehr als ein Patt erkämpft?

Scholl-Latour: So ist es, die Amerikaner werden, so lange sie vorsichtig bleiben, den Kampf in Afghanistan nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen.

Wie wird die Zukunft Afghanistans aussehen?

Scholl-Latour: Das Land wird zu seiner Normalität zurückfinden, das heißt, es wird wieder von den dort üblichen Stammesrivalitäten geprägt sein. Da sollten wir uns um Gottes Willen nicht einmischen.

Was ist mit den Taliban?

Scholl-Latour: Die Taliban waren eine Erfindung der Amerikaner und Pakistani, die - übrigens mit Hilfe des Hamit Karsai - in den Koranschulen Pakistans herangezüchtet wurden. Es gibt sie längst nicht mehr, die meisten von ihnen sind bereits zu ihren Stämmen zurückgekehrt.

Nach ihrer Operation in Afghanistan nehmen die USA nun den Irak erneut ins Visier.

Scholl-Latour: Der Irak ist, außer im Kurdengebiet, flach wie ein Tisch und seine Armee ist eine veraltete, konventionelle Armee. Es sollte für die USA also kein Problem sein, Saddam Hussein erneut zu besiegen und ihn eventuell zu liquidieren. Die interessante Frage ist, was kommt danach?

Wird mit einem Angriff der USA auf den Irak die Gefahr in dieser Region gemindert oder erst richtig angeheizt?

Scholl-Latour: Wenn man, wie es der amerikanische Präsident getan hat, öffentlich erklärt, daß man im Notfall auch gegen nicht nuklear bewaffnete Staaten atomar vorgehen will, dann kann man sich die Reaktion in der islamischen Welt vorstellen. Man muß sich stets in die Haut des anderen versetzen, etwas, wozu der Westen inzwischen völlig unfähig geworden ist: Wer so eine Bedrohung vernimmt, zum Beispiel im Iran, der hat doch nur ein Bestreben, nämlich nuklear aufzurüsten.

Das heißt, das, was wir als Terrorplanung betrachten, empfinden diese Staaten als Selbstverteidigungsmaßnahme?

Scholl-Latour: Aber selbstverständlich.

Wann rechnen Sie mit dem Schlag gegen den Irak?

Scholl-Latour: Das ist schwer zu sagen, da das vor allem von der Entwicklung in Palästina abhängt, denn für eine Aktion gegen den Irak sollten die Amerikaner den Rücken frei haben.

Anders als im Irak, wo es um Saddam Hussein geht, deckt sich im Heiligen Land der Konflikt mit einer Frontstellung des Westens gegen den Islam: die westlich unterstützten Juden gegen die islamisch unterstützten Palästinenser. Könnte also der derzeit hochkochende Nahostkonflikt zur Lunte am Pulverfaß des Kampfes der Kulturen werden?

Scholl-Latour: Das Problem der muslimischen Welt ist, daß ihre Staaten untereinander heillos zerstritten sind. Andererseits ist die Stimmung der Massen seit der Zerschlagung der palästinensischen Autonomiebehörde in einem Maße aufgeheizt, das für Leute wie Präsident Mubarak oder König Abdullah auf Dauer gefährlich werden könnte. Interessant für uns ist übrigens, daß die Israelis, obwohl sie eine der modernsten Armeen der Welt haben, mit dem Terror nicht fertig werden, und das, obwohl es nur um eine vergleichsweise primitive Attentatsstruktur in einem geographisch winzigen Gebiet geht.

Wird es zu einem neuen Nahost-Krieg kommen?

Scholl-Latour: Da ist doch schon Krieg, die Israelis haben bei Ramallah mehr Panzer aufgefahren, als Rommel vor El Alamein aufbieten konnte.

Es könnte zu einem Angriff der Hisbollah aus dem Libanon kommen?

Scholl-Latour: Diese schiitische Kampforganisation ist politisch und militärisch hochgeschult und allen anderen vergleichbaren Gruppen weit überlegen. Im Moment finden nur Grenzgeplänkel mit den Israelis statt, die aber eskalieren könnten.

Warum hat Clintons Friedensplan von Oslo nicht funktioniert, gab es eine Chance, oder war er von Anfang an zum Scheitern verurteilt?

Scholl-Latour: Ich habe nie an den Plan geglaubt.

Warum?

Scholl-Latour: Weil er der Quadratur des Kreises gleichkam.

Nun wird erwogen, eine internationale Schutztruppe ins Heilige Land zu entsenden. Bundeskanzler Schröder hat dazu deutsche Soldaten angeboten.

Scholl-Latour: Die Truppe soll ja ein sogenanntes "robustes" Mandat haben. Nun stelle man sich aber vor, deutsche Soldaten wären eines Tages gezwungen, im Zuge einer militärischen Aktion auch auf jüdische Siedler zu schießen. Die psychologische Situation wäre unerträglich. Im übrigen verzettelt sich die Bundeswehr nicht nur auf dem Balkan, in Afghanistan, Kuwait, am Horn von Afrika und nun soll sie eventuell auch noch nach Palästina. Diese "Panthersprünge" muten allmählich wilhelminisch an.

Überschätzen wir uns, weil wir glauben, im Schlepptau der mächtigen Amerikaner könne uns nichts passieren?

Scholl-Latour: Ich habe mich mit Tarik Aziz, dem zweiten Mann im Irak nach Saddam Hussein, unterhalten. Er sagte mir, die USA könnten dank ihrer ungeheuren Macht die Welt beherrschen, sogar ohne überall mit ihren Truppen präsent zu sein, und im Notfall könnten sie sich auf ihren Kontinent hinter zwei Ozeane zurückziehen. Für die Europäer sei die Situation aber anders, sie seien die unmittelbaren Nachbarn der islamisch-arabischen Welt, und sie könnten sich nirgendwohin zurückziehen. Daraus folgere ich nun nicht etwa, daß wir auf äußere Bedrohungen nachgiebig oder beschwichtigend reagieren, sondern daß wir unsere europäische Verteidigung selbst in die Hände nehmen und ausbauen sollten. Dabei soll die westliche Allianz durchaus erhalten bleiben, allerdings müßte die Nato grundlegend umgestaltet werden. Es kann nicht sein, daß Europa weiterhin verteidigungspolitisch nur ein Anhängsel der USA ist.

Brauchen wir aber nicht nur eine neue, eigene Militärdoktrin, sondern vor allem auch eine eigene europäische Politik, unabhängig von den Amerikanern?

Scholl-Latour: Natürlich, ich bin alter Gaullist, und das definiert mein Verhältnis zu Amerika. De Gaulle strebte bekanntlich immer nach einer gewissen Unabhängigkeit von den USA, sagte aber während der Kuba-Krise einmal zu Dean Acheson - und das sogar auf Englisch - "If there is a war, we shall be with you", "Gibt es Krieg, stehen wir an Ihrer Seite". Andererseits können wir nicht jede Laune der Amerikaner mitmachen.

Sie fordern sogar eigene Atomstreitkräfte für Europa.

Scholl-Latour: Das erschreckt natürlich all jene deutschen Politiker, die sogar die zivile Atomkraft ablehnen. Aber die nukleare Abschreckung ist der Preis für außenpolitische Unabhängigkeit und vielleicht sogar für das Überleben.

Wie ist ein halbes Jahr nach unserem ersten Interview über den 11. September Ihre Bilanz bezüglich der Aufklärung der Ereignisse? Sie haben damals bezweifelt, ob Bin Laden technisch und logistisch überhaupt zu diesen Anschlägen in der Lage gewesen wäre. Haben die Beweise der Amerikaner Sie inzwischen überzeugt?

Scholl-Latour: Beweise? Falls Sie auf das bekannte Video anspielen, da freut sich Bin Laden zwar sichtlich über die Anschläge, aber der Film beweist nicht das Mindeste. Nach wie vor bin ich höchst mißtrauisch gegenüber jedem "Beweis". Wir müssen uns klar machen, daß im Zeitalter der Elektronik jedes Dokument quasi-perfekt gefälscht werden kann. Die Version des FBI ist unglaubwürdig, Attentäter, die über Monate alles perfekt im Geheimen geplant hätten, ließen dann ihre Unterlagen in einem Mietwagen liegen. Ich befürchte, wir sind von allen Seiten einer massiven Desinformations-Kampagne ausgesetzt.

Nach dem 11. September wurde allen kritisch nachfragenden Journalisten und Politikern Antiamerikanismus vorgeworfen.

Scholl-Latour: Das grenzte an Hysterie - bei aller Sympathie für Amerika, die ich selbst hege. Wer den Präsidenten Bush kritisierte, galt und gilt als Antiamerikaner. Und bei uns in Deutschland verwundern mich besonders die Leute, die vor einigen Jahren noch "Ami go home" und "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh" schrieen und uns jetzt darüber belehren, was Antiamerikanismus ist. Denken Sie nur an unseren Innenminister, der sich damals quergelegt hat, um die Stationierung von Pershing-II-Raketen zu verhindern und sich jetzt in Sachen Bündnistreue überschlägt.

Was halten Sie von Bekenntnissen wie "Wir sind alle Amerikaner!"

Scholl-Latour: So ein Unsinn.

Die Stimmung im letzten Herbst mit ihren aggressiven Antiamerikanismusvorwürfen erinnerte an die Stimmung im "Gegen-Rechts"-Herbst davor.

Scholl-Latour: Derzeit ist wieder etwas anderes zu beklagen: Wer heute Premierminister Scharon kritisiert, handelt sich schnell den Vorwurf des Antisemitismus ein.

Vor einem halben Jahr haben Sie das Ende der Spaßgesellschaft vorausgesagt.

Scholl-Latour: Auch während des Zweiten Weltkrieges ging die Unterhaltung der Massen weiter. Gemeint habe ich damals nicht, daß mit einem Schlag Verona Feldbusch vom Bildschirm verschwinden sollte. Aber vielen Leuten wurde bislang vorgegaukelt, die totale Unterhaltungs-Glückseligkeit sei erreicht, die Welt sei gut und alle Menschen lieb. Das ist seit dem 11. September anders. Heute kommen immer mehr Menschen auf mich zu und fragen, welche Gefahren uns noch drohen. Der Hedonismus ist der Besorgnis gewichen.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour geboren 1924 in Bochum. Seit 1950 ist er als Journalist tätig. Er unternahm Reisen in alle Erdteile. Von 1960 bis 1963 war er Afrikakorrespondent der ARD, danach Leiter des Pariser Studios. 1969 wurde er Direktor des WDR, wechselte aber 1971 als Chefkorrespondent zum ZDF. 1983 bis 1988 war er Heraus-geber des Stern, zeitweilig dessen Chefredakteur, und Vorstand bei Gruner + Jahr. Seine Reisen und zahlreichen Bücher zur Situation im Nahen und Mittleren Osten machen ihn derzeit zu einem der gefragtesten Interviewpartner in den deutschen Me-dien. Wenige Tage nach dem 11. September 2001 prophezeite Scholl-Latour in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT den Amerikanern, sie würden "aller Vorraussicht nach" ihren Feldzug gegen den Terror in Afghanistan nicht gewinnen.

 

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