© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
Miese Stimmung vor der Wahl
Frankreich: Anti-jüdische Ausschreitungen erschüttern das republikanische Staatsverständnis
Charles Brant

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern schürt auch in Frankreich leidenschaftliche Emotionen. Das Land befindet sich in einem geradezu psychotischen Zustand, seine Regierenden in ärgster Bedrängnis. Ein Heer von tausend Polizisten ist mit der Bewachung der Synagogen und jüdischen Schulen betraut. Brandstiftungsversuche, Molotow-Cocktails, hausgemachte Bomben, verbale Angriffe: Jeden Tag schallt aus den Zeitungen die Empörung über neue "antisemitische" Übergriffe in Marseille, Montpellier, Toulouse, Lyon, Straßburg, den Pariser Vororten. Isolierte Vorfälle scheinbar, die jugendlichen Einwanderern aus dem Maghreb anzulasten sind, wie die bislang vorgenommenen Verhaftungen beweisen.

Diese Interpretation fällt um so leichter, als sich ganz Frankreich nur allzu lebhaft daran erinnert, mit welcher Euphorie die Vorortsiedlungen in der Folge des 11. September erbebten. Monatelang wurden immer neue islamistische Netzwerke entlarvt, die auf französischem Boden Osama bin Ladens mörderisches Werk unterstützten. Diese Spannung verschärfte sich angesichts der Angriffe auf jüdische Kulturzentren, vor allem aber durch die Zerstörung der Sainte-Bernadette-Kirche in Limoges. Die Regierung bemühte sich vergebens, die Wogen zu glätten und den Schaden in Grenzen zu halten.

Am 20. Februar änderte sich das Klima schlagartig: Der israelische Premierminister Ariel Scharon beschuldigte Frankreich einer "höchst gefährlichen Welle des Antisemitismus". Er erklärte, die Präsenz von fast sechs Millionen Arabern stelle eine Bedrohung für die französischen Juden dar, und ermunterte letztere, nach Israel zu kommen. Das war als Tadel für Frankreichs allzu nachsichtige Haltung gegenüber den Palästinensern gemeint und wurde auch so verstanden. Scharons Rüge löste kurzfristig weltweite Entrüstung aus und geriet bald wieder in Vergessenheit - nur in Frankreich nicht, wo die Narben historischer Psychosen aufbrachen. Der Soziologe Pierre-André Taguieff nutzte die Gunst der Stunde - die semantische Verwirrung von Antisemitismus und Antizionismus - und veröffentlichte ein Buch über die "neue Judeophobie". Die Organisation "SOS-Rassismus" und die Union der französischen Juden gaben ein "Weißbuch" heraus, das 405 antisemitische Angriffe auflistet und in der Presse ständig zitiert wird. Selbst die Frauenzeitschrift Elle widmete ihm einen Leitartikel, der einen eindeutigen Sündenbock ausmachte: die jungen Einwanderer in den Vorstädten. Gleichzeitig erklärte der Philosoph Bernard-Henri Levy im Fernsehen, zwar gebe es durchaus "einen guten Terrorismus, nämlich den der französischen Résistance-Kämpfer gegen die deutschen Offiziere", dieses Etikett passe aber nicht auf "die palästinensischen Selbstmörder, die Zivilisten töten".

Inmitten des Präsidentschaftswahlkampfes bereitet dieses widrige Klima den französischen Regierenden schlimme Kopfschmerzen. Es beeinträchtigt nicht nur ihre diplomatische Manövrierfähigkeit, sondern droht auch die jüdischen Wähler zu vertreiben. Jacques Chirac und Lionel Jospin sehen sich zu einer fast unmöglichen Gratwanderung gezwungen, wenn sie weder muslimische noch jüdische Stimmen einbüßen wollen. Beide haben Repräsentanten der jeweiligen Gruppen empfangen - nicht zuletzt Roger Cukiermann, den Vorsitzenden des überaus einflußreichen Rates der jüdischen Institutionen Frankreichs (CRIF). Am 9. April besuchte Chirac die Pariser Moschee, wo er seinen Aufruf zur Toleranz und Achtung vor kulturellen Stätten wiederholte. Einige Tage zuvor hatte er an die Franzosen appelliert, sich auf ihre Zusammengehörigkeit zu besinnen, und die Ghettoisierung verdammt. Und Jospin sagte auf einer Parteiversammlung, der Konflikt im Nahen Osten habe "schon zuviel Elend verursacht, um zuzulassen, daß die üblen Leidenschaften dieses Antagonismus auch bei uns Fuß fassen".

Solche Beschwörungen nützen herzlich wenig. Frankreich gleicht mehr und mehr einem Mosaik. Seit den sechziger Jahren ist seine jüdische Gemeinde mit rund 700.000 Mitgliedern die größte in Westeuropa. Gleichzeitig leben vier bis fünf Millionen Muslime auf französischem Boden. Mit 1.500 Kultstätten ist der Islam längst zur "zweiten Religion" des Landes geworden. Anläßlich des Fußballspiels zwischen Frankreich und Algerien im letzten September machten die arabisch-muslimischen Einwanderer lautstark deutlich, welchem Vaterland sie treu sind. Chirac bekam ihre Verachtung zu spüren, als er bei einem seiner ersten Wahlkampfauftritte in Mantes-la-Jolie angespuckt wurde. In den islamisierten Vorstadtsiedlungen herrscht eine antiwestliche und anti-europäische Stimmung. Nach dem 11. September wurde dort der Name Osama bin Ladens skandiert, in der jetzigen politischen Lage ist die Solidarität mit Palästina eine Selbstverständlichkeit. Die jüdische Gemeinschaft bietet das genaue Gegenbild: bedingungslose Unterstützung Israels und eine ähnlich geringe Bereitschaft zur Assimilation.

Am Samstag, dem 6. April ließen pro-palästinensische Kundgebungen die Straßen vieler Städte erzittern. Am nächsten Tag folgten Tausende einem Aufruf des CRIF und bekundeten Israel ihre Solidarität; nach Angaben der Polizei kamen allein in Paris 53.000 Menschen zusammen - die Organisatoren zählten 200.000. Die Demonstranten trugen israelische Fahnen und Porträts General Scharons. In Sprechchören bezichtigten sie den französischen Außenminister Hubert Védrine, ein "Wasserträger des Terroristen Arafat" zu sein. Dieser Demonstration schlossen sich auch einige Prominente an: der Philosoph Alain Finkielkraut, der Sänger Patrick Bruel und die Journalistin Anne Sinclair. Die Demonstration endete in gewalttätigen Zwischenfällen, die in der Presse "jüdischen Extremisten" zugeschrieben wurden. Ein uniformierter Polizeikommissar wurde schwer verwundet, ein spanischer Journalist zusammengeschlagen und mehrere junge Nordafrikaner verletzt. Die Handgreiflichkeiten begannen an der Bastille, als die Demonstranten auf eine Gegendemonstration trafen, die Sympathisanten der israelischen Friedensbewegung "Schalom Archav" ins Leben gerufen hatten. An ihrer Spitze marschierte der ehemalige Justitzminister jüdischer Abstammung, Robert Badinter.

Der Zeitung Le Monde zufolge gingen diese Scharmützel auf das Konto der zionistischen Betar-Miliz. Diese Unterorganisation von Likud-Frankreich besteht seit 1929 und ist der Polizei wiederholt durch ihre extreme Gewalttätigkeit aufgefallen. In den letzten Jahren machte sie vor allem durch ihre Störmanöver bei Veranstaltungen der Nouvelle Droite (Neuen Rechten) auf sich aufmerksam, ohne dafür jemals polizeilich belangt zu werden. Im Februar griff sie bei einer Versammlung des Stadtrats von Levallois-Perret die Abgeordneten rechter Parteien an. Eine vor kurzem gegründete Jüdische Verteidigungsliga plünderte eine Buchhandlung in Ivry und belästigte Anhänger José Bovés, die den Aktivisten bei seiner Rückkehr aus Palästina am 2. April in Orly empfingen. Bové hatte kurz nach der Eskalation der Gewalt in Frankreich erklärt, die Synagoge von Marseille sei vom israelischen Geheimdienst Mossad angezündet worden.

Ein Teil der französischen Rechten hat sich auf die Seite der Isrealis geschlagen. Alain Griotteray etwa macht in seinen Leitartikeln für Figaro Magazine kein Hehl daraus, wo seine Sympathien liegen. Die Wochenzeitung Valeurs actuelles, die dem Chirac-Anhänger Olivier Dessault gehört, ist seit jeher ein Sprachrohr der israelischen Rechten, ihr Nahostexperte Michel Gurfinkiel ein erklärter Verehrer Scharons.

Bemerkenswert auch die Anwesenheit des Liberaldemokraten-Vorsitzenden Alain Madelin und der ehemaligen Präsidentin des europäischen Parlaments, Nicole Fontaine, bei der Solidaritätskundgebung für Israel. Selbst Bruno Mégret, Vorsitzender der Republikanischen Nationalbewegung (MNR), läßt sich dieser Tage nicht lumpen: "Wir ergreifen Partei für unsere jüdischen Mitbürger, die Opfer der antisemitischen Akte islamischer Einwanderer wurden", verkündete er vollmundig.

Daß Frankreich zu einem Trommelfell werden konnte, das im Rhythmus des israelisch-palästinensischen Konfliktes erbebt, zeigt, wie wenig das sakrosankte "republikanische" Modell den heutigen politischen und sozialen Realitäten entgegenzusetzen hat. Neuerdings berichten Beobachter, daß verantwortliche Militärs seit einiger Zeit an Konzepten gegen urbane Aufstände arbeiten.


 
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