© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
Pankraz,
Zweig und der Beifall von der falschen Seite

Auf der Linken macht man sich wieder einmal Sorgen um den "Beifall von der falschen Seite". Viele Strategen fragen dort: "Wenn jetzt unsere Leute (siehe Günter Grass oder Dieter Forte) Bücher schreiben, in denen das Leid der Deutschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert wird und schreckliche Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung geschildert werden, provozieren wir damit nicht den Beifall von der falschen Seite, nämlich von den Rechten, die derlei schon viel früher thematisiert und geschildert haben?"

An sich sind solche Fragen grotesk. Jeder gute Argumentierer freut sich doch, wenn er Beifall auch von jenen erhält, die ihm bisher mit Reserve gegenüberstanden. Was ist denn ein Beifall wert, der immer nur von der "richtigen" Seite kommt, also von den direkten Kumpanen, denen man im Grunde gar nichts zu schildern braucht, weil sie ohnehin mit einem einig sind? Gediegener Diskurs setzt unterschiedliche Standpunkte voraus, die sich nicht nur abgrenzen, sondern phasenweise immer auch annähern und nach Einigkeit über Sachverhalte suchen.

Aber es geht den Linken eben gar nicht um Sachverhalte und gediegenen Diskurs, am wenigsten auf dem Feld der jüngeren Nationalgeschichte. Besagtes Feld ist längst eine Art semantisches und argumentatives Konzentrationslager, in dem nicht diskutiert, sondern exerziert und manchmal auch abgeschossen wird. Alles versteht sich dort von selbst, ist von oben herunter geregelt und festgelegt. Wer sich vernehmbar machen will, kommt vor lauter Beachtung der Lagerregeln gar nicht zum Nachdenken.

Kürzlich sprach Marcel Reich-Ranicki im Fernsehen sarkastisch von den "Linienrichtern", die den zeitgeschichtlichen Diskurs in Deutschland beaufsichtigen und zensieren. Das Bild war (Achtung! Beifall von der falschen Seite!) ziemlich gut, letztlich aber zu matt. Denn Linienrichter sind harmlose Gestalten, die lediglich für den geordneten Ablauf eines spannenden, erquicklichen Spiels sorgen. Die aktuellen Zeterer über den Beifall von der falschen Seite hingegen sind verbissene Spielverhinderer.

Sie wollen kein interessantes, wirklichkeitsnahes und faires (Sprach-)Spiel, sondern genau das Gegenteil: ein Ritual, in dem Gewinner und Verlierer von vornherein feststehen und die Sprache in ein Gebell von brutalen Parolenausgebern verwandelt wird. Von den selbstverständlichen Regeln der Zeithistorie haben sie keine Ahnung, keine von der Pflicht des Historikers, sich auf möglichst viele (im Ideal auf alle) Quellen zu stützen, keine von dem Gebot, allen Seiten genau zuzuhören, die Archive ordentlich auszuwerten und hermeneutische Gelassenheit zu üben.

Die zeitgeschichtlichen "Linienrichter" (vulgo: semantischen Lager-Aufseher) haben in Wirklichkeit gar nicht so viel Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Sie haben Angst davor, daß man ihnen auf die Schliche kommt, ihr übles Handwerk durchschaut, sie endlich als das benennt, was sie eigentlich sind: Fälscher und Faktenverschweiger, notorische Verschweiner eines einstmals stolzen akademischen Fachs namens Geschichtswissenschaft.

Vom Standpunkt dieser Geschichtswissenschaft waren die zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Höhepunkt und Vulkanausbruch eines Zeitalters, das man das "neoimperialistische" nennen könnte. Das neunzehnte Jahrhundert hatte mit seinen gewaltigen technischen und militärischen Innovationen für Europa und die USA die Möglichkeit geschaffen, zur Weltherrschaft aufzusteigen, ein Imperium von nie dagewesener Macht und Größe aufzurichten. Nun ging es, im "Großen Krieg der weißen Männer" (Arnold Zweig), darum, wer der Besitzer des Imperiums werden würde, wessen Kultur und Lebensstil dominieren sollte.

Vier Zentren standen
miteinander im Wett-
streit: Deutschland, Rußland, die USA und Japan; England und Frankreich konnten - trotz oder gerade wegen ihrer großen Kolonialreiche - nur Nebenrollen spielen. Der Krieg gewann schnell fürchterliche Dimensionen, sein Grausamkeits- und Vernichtungspotential übertraf alles bisher Dagewesene. Alle im neunzehnten Jahrhundert geschaffenen Institutionen zur "Hegung" von Kriegen brachen zusammen. Es regierten U-Boot- und flächendeckender Bomben-"Krieg", Guerilla- und Partisanentum, Gas- und Atombombeneinsatz, KZ-Regime, Judenverfolgung, Vertreibung und Völkerverschickung unerhört.

Am Ende blieben die USA, dank ihrer überlegenen Ressourcen, ihrer geopolitisch günstigen Lage und dank ihres schlauen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, als - vorläufiger - Sieger auf der Wahlstatt. Und die "Linienrichter" betätigen sich seitdem eifrig als Soldschreiber des Siegers, verwandelten das historische Geschehen in eine Märchenfibel vom "Sieg des Guten über das Böse", wobei sie von allen störenden Fakten einfach absahen, die Erinnerung an sie systematisch unterdrückten, mit Tabus und Redeverboten belegten, die Redeverbote sogar mittels Kriminal-Paragraphen zum Gesetz erhoben.

Wenn sich nun auch in linken Kreisen Widerstand gegen diese Art von selektiver Erinnerung und Geschichtsschreibung regt, so verdient das starken Beifall von sämtlichen Seiten. Ein allgemeines Gefühl der Erleichterung breitet sich aus, und die "Linienrichter" können wenig dagegen tun. Denn kollektive Erinnerung ist ein fragiles Ding. Man kann sie eine Zeit lang verstören und in die Irre führen, aber aus der Welt schaffen läßt sie sich nicht. Und peu à peu findet sie auf allen Seiten und über alle tagespolitischen Unterscheidungen hinweg Barden, die ihr Stimme verleihen und ihr zur Gerechtigkeit verhelfen.

"Der Beifall war durchaus endenwollend", flachste einst Friedrich Torberg beim Bericht über eine Theaterpremiere. Aber das Stück über den Großen Krieg der weißen Männer hat gerade erst begonnen. Wir wissen nicht, wie richtig oder falsch der Beifall sein wird.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen