© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
Der Klassenprimus
Daß die PDS so erfolgreich ist, verdankt sie auch SPD-Politikern wie Wolfgang Thierse
Doris Neujahr

Am Sonntag, wenn die PDS in Sachsen-Anhalt mehr als 20 Prozent der Stimmen erhalten haben wird, werden die Fernsehanalytiker erneut die Frage hin und her wenden, warum die SED-Nachfolger zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung einen derartigen Erfolg landen konnten.

Wie üblich werden sie auf die Ostalgie, die Anpassungsschwierigkeiten und den ausgebliebenen Aufschwung Ost verfallen. Der Kriminologe und niedersächsische Justizminister Christian Pfeifer wird wie gehabt auf die DDR-Kindergärten als Brutstätten des autoritären Charakters verweisen, und alle zusammen werden als letzten Grund auf Gregor Gysi, den eloquenten Menschenfänger und Rächer der Enterbten und Beleidigten, verfallen. Danach wird, wie üblich, Gysi höchstselbst in der Christiansen-Talkshow das Publikum zum Wiehern bringen. Im Ergebnis werden alle so klug sein wie zuvor.

Man sollte die Frage aus umgekehrter Perspektive angehen: Warum haben die anderen Parteien in der Ex-DDR ein derartiges Vakuum eröffnet und zugelassen? Warum haben sich in ihren Reihen nicht vergleichbar integrative, aber solidere Bezugspersonen etabliert, die dem Schaumschläger das Spiel verderben? Diese Fragestellung führt zum Grundproblem des aktuellen Politkbetriebs und der Negativauslese, die darin stattfindet.

Der Theologieprofessor und einstige SPD-Fraktionsvorsitzende in der letzten DDR-Volkskammer, Richard Schröder, wäre zweifellos ein Mann, der Gysi das Wasser abgraben könnte. Er ist scharfsinnig, ausgestattet mit schlagfertigem Humor und mit Sinn für das Funktionieren politischer Institutionen.

Gelegentlich, wenn Journalisten das Gefühl haben, daß die Kompetenz der üblichen Verdächtigen, der Schorlemmers, Rathenows und Rolf Schneiders, nicht mehr ausreicht, wird er zum Interview gebeten. Vor dem 3. Oktober 2000 nach dem Stand der "inneren Einheit" befragt, sagte der Professor an der Berliner Humboldt-Universität im Rundfunk, er könne seine Studenten längst nicht mehr nach Ost und West sortieren, sondern nur noch nach dämlich und weniger dämlich. So schlug er mehrere Fliegen mit einer Klappe: Erstens legte er dar, daß die Deutschen in Ost und West sich viel näher sind, als sie glauben. Zweitens ist diese Nähe noch kein Wert an sich, was drittens bedeutet, daß die ewige deutsche Nabelschau zu nichts Vernünftigem mehr führt. Indem Schröder sich von beiden Seiten gleichermaßen distanzierte, schuf er einen inneren Ausgleich und richtete den Blick nach vorn auf ein notwendiges, gemeinsames Neues.

Doch Richard Schröder macht keine Karriere in der SPD. Er ist seiner Partei unheimlich. Diese geistig resistente Partei ist bloß irritiert über seinen Mangel an Parteidiszipin, wenn er den Religionsunterricht als unverzichtbare kultur- und bildungsgeschichtliche Grundlage heraustellt und deshalb die opportunistische Indifferenz der brandenburgischen SPD scharf kritisiert. Solche Leute werden in den etablierten Parteien kaltgestellt. Aus der Grundwertekommission der SPD ist Schröder ausgetreten.

Seinen Eigensinn hatte Schröder schon bewiesen, als er im August 1990 das Amt des SPD-Fraktionschef in der Volkskammer niederlegte. Denn gerade hatte die DDR-SPD die Koalitionsregierung verlassen, auf Geheiß von Oskar Lafontaine, dem die ganze Wiedervereinigung nicht paßte. Zweimal, 1994 und 1999, brachte Wolfgang Schäuble ihn als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch. Natürlich steckte dahinter auch Parteikalkül: Die SPD sollte, indem man ihren klügsten Außenseiter in den Mittelpunkt rückte, in Verlegenheit gebracht werden. Trotzdem war der Vorschlag vorzüglich. Man muß einmal gelesen haben, wie Schröder in seinen Kolumnen im Berliner Tagesspiegel den penetranten Moralismus einer Antje Vollmer zerfetzt, um zu wissen, daß er in der Lage wäre, den Politikern einige Lichter aufzustecken.

Doch Richard Schröder war und ist nicht gewollt. Auf den Schild gehoben wurde Johannes Rau, ein Politkarrierist und Parteisoldat, der schon lange den Eindruck macht, als hätte er für Edvard Munchs "Schrei" Modell gesessen. In Raus Physiognomie ist die ganze Ratlosigkeit der gegenwärtigen politischen Klasse versammelt. Nach rund dreijähriger Präsidentschaft hat er noch immer nicht klarmachen können, warum ausgerechnet er im Schloß Bellevue sitzen muß. Sein Lebensmotto "Versöhnen statt spalten" ist für eine Gesellschaft, die wegen ihrer Denk-, Streit- und Bewegungsfaulheit an Atemnot leidet, pures Gift und riecht, seitdem die Korruptionsaffären in seinem Herkunftsland Nordrhein-Westfalen bekannt sind, nach: "Eine Hand wäscht die andere".

Im Windschatten Raus hat auch Wolfgang Thierse Karriere gemacht. Thierse war Richard Schröder 1990 als Fraktionschef nachgefolgt und ist Chef der SPD-Grundwertekommission. Als Bundestagspräsident kann er politisch nicht viel falsch machen, andererseits ist dieses Amt derart exponiert, daß, wenn sein Inhaber originelle Gedanken äußert, diese auch gehört werden. Dem Ost-Berliner Thierse war zunächst zugetraut worden, den abgeschlafften Politik- und Diskursbetrieb in Selbstzweifel zu stürzen und auf Trab zu bringen und gleichzeitig die "Ossis", die sich - ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt - in der Politik unterrepräsentiert fühlen, gesellschaftlich zu integrieren.

An der Bildung des studierten Kulturwissenschaftlers und Germanisten besteht kein Zweifel, sein Timbre ist eindrucksvoll, und 1976 hat er Courage bewiesen, als er gegen die Biermann-Ausbürgerung Stellung bezog. Seine berufliche Karriere erhielt einen Knick, er überwinterte bis 1989 an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Starke Charaktere entwickeln in solchen Situationen machtgeschützter Innerlichkeit eine geistige und moralische Unabhängigkeit, die sie für alle Zeiten gegen opportunistische Anfechtungen immunisiert.

Doch längst ist klar, daß Thierses pastorales Auftreten nur die Tatsache verdeckt hat, daß er kein selbständiger Denker und Zeitkritiker, sondern vor allem ein beflissener, unsicherer, autoritärer Charakter ist. Thierse hat es verletzt, in der Presse als "Ossi-Bär" tituliert zu werden, weil ihm das Zeug dazu fehlte, tatsächlich einer zu sein und so den Vorwurf in einen Vorzug umzumünzen. Er möchte geliebt und gelobt werden. Das macht ihn so brauchbar und kompatibel für den Politikbetrieb. Deshalb ist er in der politischen Hierarchie höher gestiegen als jeder andere SPD-Politiker aus der Ex-DDR.

Sein Bedürfnis nach Zuwendung wurde erfüllt, als er im Zuge der Kampagne "gegen Rechts" 2000 erklärte, er schäme sich für Deutschland! Endlich!, jubilierte es im Blätterwald, nenne ein deutscher Spitzenpolitiker die Dinge einmal mutig beim Namen.

Natürlich war Thierses Scham-Rhetorik weder neu noch mutig. Sie entsprach lediglich dem Tremolo der linksliberalen Presse, die glücklich darüber war, ihren Unfug aus hohem Mund und durch eine halbe DDR-Widerstandsbiographie legitimiert zu sehen. In der Ex-DDR, die in Thierse eine authentische Stimme zu haben glaubte, bedeutet seine Übernahme der bundesdeutschen Scham-Rhetorik eine psychologische Katastrophe, weckte sie doch fatale Assoziationen.

Nach der Niederschlagung des 17. Juni 1953 verkündete ein Parteibarde, das Volk müsse sich wegen des Aufstandes vor der Partei und der Sowjetarmee schämen. Vor der ganzen Klasse schämen sollten sich bis zum Schluß die 14jährigen, die nicht in die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eintreten wollten! Schämen sollten sich Abiturienten, die keine Lust hatten, vor dem Studium eine dreijährige Armeezeit zu absolvieren! Schämen sollten sich Arbeiter und Angestellte, die im Beitritt zur Staatsgewerkschaft keinen Sinn sahen und damit die Ernennung ihrer "Brigade" zum "Kollektiv der Sozialistischen Arbeit" blockierten!

Die jahrzehntelange Einsperrung demütigte die DDR-Bürger und pflanzte ihnen ein Minderwertigkeits- und Schamgefühl ein. Die DDR funktionierte als eine Schamgesellschaft. Nun verlangte Thierse von seinen schamgeschädigten Mitbürgern, sich dem neuen, westdeutschen Schamvokabular zu unterwerfen. Damit war er in ihren Augen zum angepaßten Karrieristen und "einer von denen" geworden.

Das würde Gysi nie passieren! Nehmen wir mal an, er würde nach den ausländerfeindlichen Übergriffen in den neuen Bundesländern gefragt. Er würde zuerst den autoritären Zuschnitt der DDR einräumen (Signal an alle: Die kritische Sicht auf die DDR-Vergangenheit!), dann aber erwähnen, daß in der DDR keine Ausländerfeindlichkeit öffentlich geworden ist (Signal an den Osten: "Es war nicht alles schlecht bei uns!"). Dann würde er listig anmerken, daß in der BRD alte Nazis in höchste Positionen gelangten (Signal West: Asche aufs Haupt! Signal Ost: Wir haben dem Westen was voraus!), und abschließend würde er auf bedenkliche Tendenzen in CDU und CSU hinweisen und eine breite Front gegen Rechts fordern. (Signal West: Die PDS ist ein Bündnispartner gegen das Böse! Signal Ost: Gysi, einer von uns, diktiert dem Westen das Thema!) Dabei entgeht den meisten, daß Gysi niemals den Konsens der linksliberalen Meinungsindustrie verletzt, sondern ihm schmeichelt. Thierses Versuche, mit diesem Demagogen zu konkurrieren, sind so hilflos wie lächerlich.

Er verkörpert die Lächerlichkeit des Klassenprimus', der immer alles besonders gut machen will und dabei übertreibt. Wenn Thierse jetzt fordert, die Stasi-Überprüfung in den neuen Ländern zu beenden, ist das sofort als Anbiederung an die Wählerschaft der PDS erkennbar. Nichts fällt ihm hingegen ein, wenn die PDS die DDR-Biographien für sich reklamiert und die SPD-Genossen sie darin noch ausdrücklich bestärken.

Es wirkt lachhaft, wenn ausgerechnet Thierse fordert, jetzt müßten die Westdeutschen auch mal was von den Ostdeutschen lernen. Was sollen sie, zum Beispiel, von Wolfgang Thierse lernen? Wie man nach oben kommt, ohne groß anzuecken und dabei zum braven Apparatschik wird? Wie man sich als effektiver Fürsprecher von Denkfaulheit und Konformität profiliert?

Leider gilt gerade deshalb: Falls die SPD die Mehrheit in der Bundesversammlung behält, falls Johannes Rau allen Erwartungen zum Trotz keine zweite Amtszeit anstrebt und auch Jutta Limbach keine Lust hat zu kandidieren, dann stehen die Chancen für Thierse - und nicht etwa für Richard Schröder - gut, 2004 zum neuen Bundespräsidenten gewählt zu werden. Die PDS wird auf jeden Fall für ihn stimmen. Denn sein Erfolg ist die Voraussetzung für ihre Unverzichtbarkeit.


 
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