© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
Mit Zarathustra gegen die Mullahs
von Mohammed Djassemi

Der Sufismus ist die große mystisch-aufklärerische und antiautoritäre Bewegung im Islam, die sich von unten gegen die theokratische Despotie und deren eigentliche Apologeten, die Orthodoxie entwickelte; diese seine politische Seite samt den politiktheoretischen Implikationen wurde bisher in der Literatur kaum beachtet. Man hat vielmehr die allgemeine geistesgeschichtliche Bedeutung des Sufismus in den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt.

Doch das zentrale Thema der Auseinandersetzung der Sufis mit der Orthodoxie, nämlich die "Schari'a" (Gesetz) zeigt eindeutig, daß sie zielbewußt die Machtkonzeption des offiziellen Islam und die damit verbundene politische Theorie und politische Praxis der herrschenden Klassen attackiert haben. Für die Orthodoxie resultierte aus der Allmacht Gottes der Satz, daß der Mensch von der Schöpfung her ein Sklave Gottes sei. Dem Status dieses Sklaven entsprechend bildete die Schari'a den mit Geboten und Verboten abgesteckten Weg, der ihm von Gott her vorgeschrieben war. So wie eine Befreiung von diesem ontologisch gedachten Status unmöglich erschien, so konnte auch unmöglich die Schari'a in Zweifel gezogen werden.

Besser kann man diese Theorie nicht in wenigen Sätzen ausdrücken, als Scheich al-kabir, selbst ein gemäßigter Sufi, der gegen die Radikalen in seinen eigenen Reihen polemisierte, es getan hat: "Die Freiheit von der Sklaverei ist eitel; das heißt, wenn jemand sich dünkt, daß der Sklave frei sein sollte, daß also der Mensch von den religiösen Gesetzespflichten (taklifat-i Schar'a-i) befreit sein sollte, ist ein eitler Wahn."

Ging die Gotteslehre des offiziellen Islam von einer abstrakten Gottestrans- zendenz aus, so erklärten die Sufis das ganze Sein insofern für göttlich, als die Vielheit gemäß der Emanationslehre Plotins von dem ursprünglichen Einen entstanden war. Nach dieser Seinslehre erschien Gott nicht mehr als ein über der Welt "hockendes Abstraktum", sondern das ganze Weltall selbst war "die Ausströmung der göttlichen Kraft".

Um diese Reaktion besser zu verstehen, muß man sich noch einmal vergegenwärtigen, welche Konsequenzen die Vorstellung der Orthodoxie über die Gotteseinheit (tauhid) und die Gottesallmacht ausgelöst hatten. "Je mehr man nämlich den Begriff der Einheit und Einzigkeit Gottes vernunftmäßig ausdenkt, je mehr man, um alle außer Gott bestehenden, wirkenden und verehrungswürdigen Wesen oder Mächte auszuschließen, alle Existenz, alle Ursächlichkeit auf ihn konzentriert, je mehr man allem, was außer ihm besteht und wirkt, reales Dasein und tatsächliche Wirkungskraft abspricht, desto mehr entschwebt dieses Gottesbild dem menschlichen Vorstellungsvermögen, desto abstrakter, blasser, farbloser, unfaßbarer wird dieser Eine, neben dem es nichts anderes geben soll.

Mit anderen Worten: je mehr dieser Monotheismus "zur Weißglut erhitzt" (H. Kraemer) wird, desto mehr wird alles Persönliche, Lebenswarme, Menschennahe in diesem Gottesbild gleichsam von dieser Überhitzung verzehrt.

Die Leidenschaft der Superlative kommt auch bei dem zweiten Hauptsatz der Gotteslehre der islamischen Orthodoxie, der" Allmacht Allahs" zum Vorschein. Es zeigt sich auch hier, daß das Streben, zu Gottes Ehre alle Ursächlichkeit auf ihn zu häufen, unausweichlich zum Dogma von der absoluten doppelten Prädestination führen mußte. Dabei ist es entscheidend, daß sowohl Gnadenwahl als auch Verdammungsurteil nicht nur in keinem sittlichen Zusammenhang mit dem Leben des Menschen stehen (dadurch wäre ja eine Ursache außer Gott angenommen), sondern, daß sie auch unbeeinflußt von jeder Gemütsbewegung im Innern Allahs erscheinen. Sie sind grundlose Entscheidungen seiner Willkür, rein zufälliger Geschehnisse, bei denen das Herz Gottes völlig unbeteiligt bleibt ... Macht wird also zur Willkür, Erhabenheit zur Herzlosigkeit ... Das Bild, das der mohammedanische Gläubige von seinem Gott haben muß, ist dasjenige eines unerreichbar erhabenen, eines unberechenbaren orientalischen Sultans.

Die Sufis nun setzten ihre Vorstellung von einem persönlichen und mit dem ganzen Sein identischen Gott, dem strengen und abstrakten Monotheismus der offiziellen Dogmatik entgegen. Das Sein ist ganz Gottes liebes Wesen. Alle Dinge sind in Ihm, Er ist in allen anwesend.

In beiden Welten gibt es außer Gott niemanden. Von den drei in der Religionsgeschichte und in den spekulativen Grübeleien über die Schöpfung vorgetragenen Vorstellungen: Schöpfung, Entstehung und Ausströmung lehnten die Sufis die erste strikt ab, wonach der Schöpfer als ein Uhrmacher und der Mensch (sowie die Welt und die übrige Kreatur) als eine kunstvoll hergestellte Uhr vorgestellt wurden. Diese Vorstellung ließ nicht nur das religiöse Gemüt unbefriedigt, sie implizierte auch in ihrem Begriff vom Geschöpf als einem Uhrwerk die Momente ewiger Unfreiheit und für den Menschen zudem die des Freiseins vom sittlichen Verhalten.

Diese Lehre, auf die politisch-gesellschaftliche Sphäre angewandt, bedeutete dann, daß die politische und die eng mit ihr verbundene klerikale Despotie insofern berechtigt und legitim sei, weil sie in Gottes Namen für das reibungslose Funktionieren dieses seelen- und willenlosen Uhrwerkes in der Welt verantwortlich sei.

Es lag also auf der Hand, daß, wenn man diese politischen und religiösen Autoritäten in Frage stellen wollte, man ihrer Gottes- und Schöpfungsvorstellung entgegenwirken mußte. Diese spezielle Leistung vollbrachten die Sufis, indem sie die biblischen Ideen von einem personalen Gott mit der neuplatonischen Emanationslehre, ja mit altem persischen Gedankengut des Mazdaismus zu einer eigentümlichen Lehre verbanden. (...)

Was bedeuten denn die Verschiedenheit der Konfessionen, der Riten, der Gesetze, der Dogmen für den, der in der Liebe das wahre Wesen aller Religiosität erblickt hat? Die Sufis würden antworten: Nichts! "Weder Christ bin ich noch Jude noch Muslim", beschreibt Abu-l-A'la Maudoodi diese Haltung. (...)

Die Idee des "vollkommenen Menschen", die im Islam generell und besonders im Sufismus eine zentrale Rolle gespielt und schließlich in der Philosophie von 'Abd al-Karim Djili ihre systematische Darstellung gefunden hat ("Al-insan al-Kamil" ist der Titel seines bekannten Buches), ist ein beredtes Zeugnis von denjenigen positiven Einflüssen, die von der altiranischen Zarathustrareligion auf den Islam ausgeübt worden sind.

In der durchaus ethisch-aktivistischen, welt- und lebensbejahenden Zarathustrareligion erscheint der Urmensch "Gayomard" als Prototyp und Ursprung der Menschheit in dem großen Drama der Weltentstehung neben Gott in einem unversöhnlichen Kampfe gegen die bösen Mächte: Dieser "gerechte Mensch" (so wird der Urmensch schon in Awesta genannt) ist von Anfang an ein Teil göttlicher Macht, durch deren Wirken erst die Schöpfung zu ihrem Endzweck, dem umfassenden und endgültigen Sieg des guten Prinzips, geführt werden kann.

Später kommt zu der Gestalt des göttlichen Urmenschen neben der ursprünglichen kosmologischen Bedeutung durch Gnosis, frühchristliche Sekten, Manichäismus und neuplatonisches Gedankengut auch eine soteriologisch betonte Funktion hinzu und gelangt über komplizierte und von der Forschung noch nicht ganz erhellte Wege als die Idee des vollkommenen Menschen in den Islam. Hier prägt sie das Mohammadbild des Muslims, das Charisma der 'alidischen Imame und das Ideal und die hohe Bewertung des Menschen bei den Sufis.

Bei den Sufis wird die Idee des allgemeinen Kalifats des Menschen auf Erden durch die Vorstellung des vollkommenen Menschen ad absurdum geführt: Wenn die Substanz des Menschen wesentlich göttlich ist, wenn also sein Geist vom göttlichen Geist entstammt, und wenn die Verwirklichung dieses göttlichen Seins prinzipiell hier und jetzt, das heißt in der weltlichen Existenz möglich ist, so liegt der Schluß nahe, daß der Mensch zum Ursprung einer unendlichen Macht und Weisheit wird, wenn er sich vollkommen, das heißt ungehindert verwirklichen kann. Denn für den Sufi gilt, daß Gott im Menschen lebt; und wenn Gott im Menschen lebt, so ist die Selbstverwirklichung eben nichts anderes als eine Gottverwirklichung.

Vom offiziellen, und das heißt dem herrschenden Gesetzesislam her, ist der Mensch angehalten, sich auf dem einzig zulässigen, von Gott für ewig abgesteckten Pfad der Gesetze zu verwirklichen; Gott erscheint hier also als die Schranke der Selbstverwirklichung des Menschen, während bei Sufis völlig umgekehrt die Schranke der Gottverwirklichung der Mensch selbst ist. Dort kann der Mensch nie ganz das Mysterium des Göttlichen erfassen, während hier die göttliche Substanz des Menschen um sich selbst wissen kann.

Dort hofft der Mensch im treuen Vasallenverhältnis die Gnade Gottes auf sich zu lenken und im absolutistisch regierten Reich Gottes in ständiger Furcht mit der ihm zukommenden Amtsmacht die Welt zu verwalten, während hier weder von Furcht noch von Hoffnung die Rede sein kann, denn Gott ist mit aller Machtherrlichkeit im Menschen bei sich selbst und das einzig vermittelnde Medium zwischen den beiden Momenten dieser Wesenseinheit - dem Menschlichen und dem Göttlichen - ist die Liebe. Daher würde der Sufi von dem Menschen sagen: "Ich bin die einzig herrschende Macht in beiden Welten, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits, in beiden Welten sehe ich keinen, vor dem ich Furcht haben oder von dem ich die Hoffnung auf Gnade hegen könnte; überall sehe ich mich selbst." Mit den bekannten Worten Bastami's: "subhan (ein Name Gottes) bin ich; was ist noch erhabener als meine Würde."

Während also die um das Gesetz Wissenden (= Fuqaha) mit dem Gesetz wesentlich das Moment der Herrschaft betonten, meinten die islamischen Mystiker und allen voran die Sufis mit der Liebe wesentlich das Moment der Freiheit. Müßte bei den ersten das Gesetz das unabänderliche Fundament der islamischen Gesellschaft bilden, so sollte bei den letzten die Liebe den Grundtypus aller gemeinschaftlichen Interaktionen ausmachen.

Freilich haben die Sufis keine politische Ordnungsform entwickelt bzw. entwickeln wollen, aber ihr Kampf gegen die klerikale Verknechtung des Menschen liefert genügend Beweise dafür, daß ihnen eine "freie Gemeinschaft der Liebe" als Alternative vorgeschwebt haben soll, die eben nicht mit den Mitteln des politischen Machtaustrages zu erreichen wäre. Hier sollte die Liebe das Prinzip und das Maß aller Tugenden bilden und nicht die sklavische Befolgung religiöser Gesetze. Glaube und Unglaube (Kufr und Iman), sagt Bastami, gehören der körperlichen Hülle an, während demjenigen, der die Liebe des Weltenveränderers entdeckt hat, keine Befehle und Pflichten auferlegt werden können. Demnach wäre nicht die von Ulama gepredigte Gottesfurcht die Basis aller Tugenden, sondern die durch Liebe angestrebte Wesenseinheit mit Gott. Diese sei prinzipiell eine persönliche und innere Angelegenheit des einzelnen, die frei von allen äußeren Zwängen sein soll.

Von daher sei die staatliche Verordnung des Glaubens, eine zum Staat erhobene Religion also, sei es auch durch den Propheten selbst, der gröbste Unfug auf dem Wege der unmittelbaren Gottesanschauung. Propheten haben die Menschen geteilt, statt sie zu einigen. Über alle Konfessionen hinweg könnte und sollte deshalb einzig die Liebe zu Gott das verbindende Element der Menschheit bilden. Die anfänglichen Schritte der Individuen auf dem Liebesweg zu Gott, auch wenn sie mit allerlei Äußerlichkeiten und Akzidentien behaftet sind, sollten toleriert und liebevoll durch die Kraft des besseren Beispiels entwickelt, jedoch nicht unterdrückt werden.

Obwohl die Sufis im Gegensatz zur herrschenden "Fuqaha" die unendliche, göttliche Macht des Menschen betonten, schienen sie nicht geneigt zu sein, davon gesellschaftlichen Gebrauch zu machen. Vielmehr setzten sie alles daran, die Macht in Demut, in Liebe umzusetzen und verzichteten bewußt auf gesellschaftliche Statussymbole, um die Kristallisierung der Macht und damit die gesellschaftliche Institutionalisierung der Herrschaft zu verhindern: Sie vertauschten ihre schönen Kleider mit "Suf" einer einfachen wollenen Robe; sie mieden das gelehrsame Reden und Auftreten und vernichteten sogar ihre Bücher; sie verzichteten auf Anhang und Beifall des Publikums; sie übten sich in der Askese (zuhd) und lebten von den Erträgen ihrer eigenen Arbeit, statt sich übermäßiges Eigentum und übermäßigen Reichtum zuzulegen; sie prangerten offen und geheim die weltlichen und religiösen Machthaber an und mieden ihre Gesellschaft; sie ließen sich sogar öffentlich erniedrigen, was manchen von ihnen den Beinamen "die Gescholtenen" (malamatiya) einbrachte; sie betonten die fröhliche Seite des Lebens und praktizierten in ihren Reihen - sehr zum Ärger der 'Ulama - Musik, Gesang und Tanz und entwickelten die mystische Poesie zu Meisterwerken der Dichtkunst.

Auch wenn der Sufismus keine im eigentlichen Sinne religiös-politische Partei im Islam war, bildete sein geistiges nachhaltiges Wirken ein Politikum ersten Ranges. Aus der bedingungslosen Verwerfung der Idee der Theokratie, sei es in der Form des Kalifats, des Sultanats oder einer weitgehend an Gottesgesetzen orientierten Theo-Demokratie, durch die radikalen Sufis konnte eigentlich nur noch eine staats- und herrschaftslose Gemeinschaft resultieren, die den Forderungen des individualistischen Anarchismus gleichkommt.

Die Liebe ist hier sowohl das integrative Element der Gemeinschaft als auch der Motor ihrer Entwicklung. Selbst das Satanische, als Inbegriff des Bösen - von der Orthodoxie als ideologisches Instrument der Herrschaft benutzt - erfährt bei den Sufis eine überraschende Deutung zum Guten, denn er, der Satan, handelte aus Liebe zu Gott, als er den Befehl verweigerte, Adam zu verehren. Soweit aber die Sufis die Notwendigkeit des Gesetzes und der staatlichen Form der Herrschaft in Betracht zogen, taten sie es in Hinblick auf die Erfordernisse der körperlichen Existenz der Menschen.

Hier konnte man denn aus ihren Ansätzen schlußfolgern: Ein weitgehend liberaler, pluralistischer Staat, der den Anforderungen der Toleranz Genüge leistet, die individuellen, persönlichen Wege zum Heil respektiert, mit keinen ewigen Gesetzen die Entwicklung der Gemeinschaft verbarrikadiert und keine staatlich totalitäre Verordnung der "Wahrheit" und damit der geistigen Versklavung der Menschen vornimmt. Der amorkratische Anarchismus bzw. der amorkratische Liberalismus, das sind die eigentlichen politischen Konsequenzen der sufischen Bewegung in der islamischen Welt, die erstmals auf einen Laizismus hinauslaufen.

Diese Konsequenzen konnten freilich von den Sufis im Mittelalter nicht ganz und offen gezogen werden, aber heute im Zeichen der islamischen Renaissance beziehen sich Teile der islamistisch orientierten Intelligenz auf diesen geistigen Hintergrund und versuchen aus den Ansätzen und Einflüssen der Sufis in der Auseinandersetzung mit modernen politischen Theorien, neue politische Konzeptionen und Programme zu entwickeln.

 

Dr. Mohammed Djassemi ist 1933 im Iran geboren und Politikwissenschaftler sowie Autor. Sein Text ist ein Auszug aus seinem soeben im Videel Verlag, Niebüll, erschienenen Buch "Macht und Staat im Islam", den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages abdrucken.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen