© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Ehrlos
von Doris Neujahr

Seit kurzem ist Hans-Dietrich Genscher auch Ehrendoktor der Universität Stettin. In der Feierstunde, an der, neben polnischen Politikern, der deutsche Botschafter Frank Elbe und der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe teilnahmen, war Erstaunliches zu hören. In seinem Festvortrag äußerte Geschichtsprofessor Wlodzimierz Stepinski unter anderem, so wie Helmut Kohl einst von der "Gnade der späten Geburt" gesprochen habe, so könnten Europa und Polen "dankbar von der Gnade der deutschen Teilung sprechen", denn nur in ihrem Windschatten habe Polen die neuen Nord- und Westgebiete (also den deutschen Osten) integrieren können.

Auf die Kernaussage reduziert, referierte Stepinski die machtpolitische Konstellation zwischen 1945 und 1989. Von einem Festvortrag erwartet man mehr. Vor allem einen ethisch fundierten Standpunkt und Distanz zum eigenen - nationalen - Egoismus.

Genscher, der DDR-Flüchtling, und Stolpe, der langjährige Verhandlungsführer der Kirche mit den DDR-Behörden, haben am eigenen Leibe erlebt, was diese "Gnade" praktisch bedeutete. Mehr noch: Genschers Frau ist Schlesierin, Stolpe gebürtiger Stettiner.

Es gibt in Polen genügend Professoren, denen Stepinskis Tonlage nicht im Traum einfallen würde, und niemand hat verlangt, daß Genscher, Stolpe und der Botschafter fäusteschüttelnd den Saal verlassen. Eine knappe, höfliche Stellungnahme hätte genügt. Die aber kam nicht. Die deutschen Politiker mögen das für diplomatisch halten. In Wahrheit ist es einfach nur - ehrlos!


 
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