© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
"Habt keine Angst zu träumen, ihr kleinen Leute"
Frankreich: Le Pen kommt erstmals in Stichwahl für Präsidentschaft / Linke und Bürgerliche werben jetzt für Amtsinhaber Chirac
Christian Giamuzzi / Jörg Fischer

Frankreich befindet sich im Schockzustand. Was bislang unmöglich schien, ist Jean-Marie Le Pen am Sonntag gelungen: Zum erstem Mal in der Geschichte der Fünften Republik kommt ein Rechtspopulist in den zweiten Durchgang der Präsidentenwahl. Als die erste Hochrechnung erschien, brachen auf der sozialistischen Wahlparty junge Mädchen in Tränen aus. Der 73jährige Chef des "Front National" erhielt knapp 17 Prozent der Stimmen und wird in der kommenden Stichwahl am 5. Mai versuchen, dem amtierenden konservativen Präsidenten Jacques Chirac sein Amt streitig zu machen. Der sozialistische Kandidat, Premier Lionel Jospin, schied mit 16,1 Prozent der Stimmen bereits in der ersten Runde aus. Damit ist die Linke erstmals seit 1967 nicht in der zweiten Runde einer Präsidentenwahl vertreten.

Für die seit den Parlamentswahlen von 1997 regierende "pluralistische Linke", an der neben den Sozialisten auch Radikalsozialisten, Kommunisten, Grünen und die "Bürgerbewegung" des Ex-Innenministers Jean-Pierre Chevenèment beteiligt sind, bedeutet dies eine historische Niederlage. Gemeinsam erhielten ihre Kandidaten nicht mal ein Drittel der Stimmen: Der als "dritter Mann" gehandelte Chevenèment wurde mit 5,3 Prozent Sechster, der Grüne Noël Mamère folgt mit 5,2 Prozent. Der Altkommunist Robert Hue mußte sich mit 3,4 Prozent begnügen, die farbige Guyanerin Christine Taubira (Radikale Linke-PRG) mit 2,3 Prozent. Indem er die "volle Verantwortung" für diese Niederlage übernahm, kündigte Premier Jospin noch am selben Abend seinen "endgültigen" Rückzug aus der Politik an. Durch sein Ausscheiden im ersten Wahldurchgang erlebte Jospin das gleiche Schicksal wie sein Vorgänger im Amt des Premierministers, Edouard Balladur (RPR). Der Neogaullist war 1995 im ersten Durchgang seinem Parteifreund Chirac unterlegen. Bislang ist es keinem Regierungschef in Frankreich gelungen, direkt den Sprung in den Elysée-Palast zu schaffen.

Darüber hinaus stellt das Ergebnis vom 21. April allerdings eine Niederlage für alle etablierten parlamentarischen politischen Kräfte in Frankreich dar. Nicht nur Le Pen feierte mit einem Sechstel der Stimmen einen ungeahnten Erfolg. Auch das linksextremen Lager legte mächtig zu: Die drei trotzkistischen Kandidaten Arlette Laguiller ("Arbeiterkampf"/Lutte Ouvriere/5,7 Prozent), der erst 28jährige Olivier Besancenot (Ligue Communiste Révolutionnaire/LCR/4,3 Prozent) und der 48jährige Geschichtsprofessor Daniel Gluckstein (Parti des Travailleurs/PT/0,5 Prozent) ernteten zusammengerechnet 10,5 Prozent der Stimmen.

Le Pens Überraschungserfolg traf die öffentliche Meinung in Frankreich wie ein Faustschlag. Dies umso mehr, als dieser durch eine rekordartige Wahlenthaltung von 28,4 Prozent begünstigt wurde. Die Medien sprachen von einem "Selbstmord" der Linken (Libération) und von einer "grausamen Lektion" (Les Echos). Für den Figaro erlebte Frankreich am Sonntag ein politisches "Erdbeben". "Die Linke ist geschlagen, erniedrigt, verzweifelt und am Boden zerstört", meinte die katholische Tageszeitung La Croix.

Noch in den Abendstunden erwachten zahlreiche Franzosen aus der Lethargie des sonnigen Aprilsonntags, an dem sie von den Wahlurnen ferngeblieben waren. Tausende (darunter viele jugendliche Einwanderer) gingen in Paris und anderen Großstädten auf die Straße, um lautstark gegen Le Pen zu protestieren: In Sprechchören riefen sie "Nieder mit dem Faschismus" und "Stoppt Le Pen". Auf Transparenten hieß es "Schande für Frankreich". Die Polizei setzte Tränengas ein, um einen Demonstrationszug von etwa 3.000 Menschen aufzulösen, die vom Osten der Hauptstadt in den Elysée-Palast gelangen wollten. Vom Pariser Platz der Republik zogen 10.000 Personen zum Place de la Bastille.

Bei all der Aufregung rund um Le Pen blieb dagegen beinahe unbeachtet, daß Chirac mit 19,7 Prozent das schlechteste Wahlergebnis eines amtierenden Präsidenten in der Fünften Republik erreichte. 1981 hatte der zentrumsbürgerliche Präsident Valerie Giscard d'Estaing (UDF) im ersten Wahldurchgang 28,3 Prozent erhalten. Der Sozialist François Mitterrand brachte es sieben Jahre später gegen Chirac sogar auf 34,1 Prozent.

Die beiden anderen bürgerlichen Kandidaten blieben ebenfalls schwach: François Bayrou (UDF) landete abgeschlagen mit 6,8 Prozent auf Rang vier, der rechtsliberale Alain Madelin (DL) wurde mit 3,9 Prozent nur Zehnter! Er landete damit noch hinter Jean Saint-Josse von der ländlichen "Jägerpartei" (CPNT) mit 4,2 Prozent. RPR, UDF und DL liegen mit 30,5 Prozent hinter der regierenden "pluralistische Linken".

Dennoch ist sich der 69jährige Chirac seines Sieges bereits so gut wie sicher. Umfragen zufolge werden am 5. Mai bis zu 80 Prozent der Wähler für den Neogaullisten stimmen - im ersten Wahlgang irrten die Demoskopen allerdings. Mit der Ausnahme Arlette Laguillers riefen bereits am Wahlabend auch alle ausgeschiedenen linken Kandidaten dazu auf, bei der Stichwahl Chirac zu unterstützen. Nur die Trotzkistin betonte dagegen ihren Willen, Le Pen zu bekämpfen, allerdings auf "sozialer Ebene". "Ich werde nicht dazu aufrufen, für Chirac zu stimmen", so Laguiller.

Chirac bestätigte sich als der Polit-Profi, der bereits seit den siebziger Jahren das politische Leben Frankreichs entscheidend mitbestimmt. Seit Monaten hat der amtierende Präsident auf Innere Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung gesetzt. Damit griff er Le Pens Hauptthema auf und manövrierte Jospin ins Abseits. Selbst die zahlreichen Skandale, die ihm aus seiner langjährigen Laufbahn nachhängen, konnten dem Neogaullisten nur wenig anhaben.

Der Gründer der gaullistischen RPR (Rassemblement pour la Republique) war bereits zwei Mal Regierungschef, mehrfach Minister und von 1977 bis 1995 Bürgermeister von Paris. Vor allem in letzterem Amt wirft die Justiz dem Politiker Vetternwirtschaft vor. Mehrfach wurde Chirac bereits als Zeuge vorgeladen. Er verbarrikadierte sich allerdings hinter dem Immunitätsschutz des Präsidentenamtes und verweigerte seine Präsenz. Fünf weitere Jahre im Elysée-Palast bedeuteten das Ende der gegen ihn gerichteten Ermittlungsstränge, da die ihm zur Last gelegten Delikte kurz vor der Verjährung stehen.

Für Le Pen erfüllte sich am 21. April dagegen ein Jahrzehnte alter Traum. Bereits 1995 erzielte der FN-Chef 15 Prozent der Stimmen. Die von allen Parlamentsparteien gebildete "republikanische Front" hatte ein Aufrücken Le Pens bislang verhindert. Zu einem ersten Signal kam es bei den Kommunalwahlen von 1995, als die FN drei Gemeinden eroberte, darunter das südfranzösische Toulon. 1997 kam das 40.000 Einwohner zählende Vitrolles bei Marseille dazu. Dann geriet die Partei allerdings in die tiefste Krise ihrer Existenz, als sich der FN-Chefideologe Bruno Mégret Anfang 1999 abspaltete und die "Mouvement National Républicain" (MNR) gründete. Mégret schaffte allerdings kaum Wahlerfolge - bei der jüngsten Präsidentenwahl nur 2,4 Prozent. Er rief seine Wähler aber dazu auf, bei der Stichwahl für Le Pen zu stimmen.

Der Niedergang der regierenden Linken hatte sich bereits bei den Kommunalwahlen im März 2001 angekündigt. Damals hatten sämtliche Umfragen einen Sieg der Linken erwartet, doch die Sozialisten verloren zahlreiche mittelgroße Städte an die Bürgerlichen, nur in Paris und Lyon gewann die Linke hinzu.

Das größte Problem stellt für Le Pen der Umstand dar, daß er im Gegensatz zu Chirac über keine Wählerreserven mehr verfügt. Er kann naturgemäß nur mit den Stimmen der Mégret-Wähler rechnen. Daher der Versuch des FN-Chefs, sich als "Kandidat des Volkes" gegen den "Kandidaten des Systems" zu etablieren. "Ich rufe die Franzosen aller Rassen, aller Religionen und jeder sozialer Stellung auf, für diese historische Chance der nationalen Erneuerung zusammenzukommen", erklärte Le Pen am Wahlabend. "Habt keine Angst zu träumen, ihr kleinen Leute, das Fußvolk, die Ausgeschlossenen, (...) ihr Bergleute, ihr Stahlarbeiter, Arbeiter in all den Industrien, die von der Euro-Globalisierung von Maastricht ruiniert wurden." Der FN-Chef forderte die Wähler auf, mit ihrer Stimme dem "technokratischen Europa von Brüssel" eine Absage zu erteilen. Das taten die Franzosen schon am letzten Sonntag: Die wirtschaftsliberalen "Globalisierungsparteien" (Bürgerliche und Sozialisten) kamen zusammen nur noch auf 46,6 Prozent der Stimmen


 
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