© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Neue soziale Herausforderungen
Sozialpolitik: Der Altenbericht der Bundesregierung untersucht Deutschlands Jahrhundertproblem - die Überalterung
Bernd-Thomas Ramb

Der demographische Wandel kommt einer schleichenden Revolution gleich. Die Bevölkerungspyramide wird sich innerhalb von nur 100 Jahren komplett gewandelt haben. 1950 gab es etwa doppelt so viele Menschen unter 20 wie über 59 Jahren; im Jahr 2050 wird sich dieses Verhältnis genau umgekehrt haben. In fünfzig Jahren werden knapp acht Millionen Menschen 80 Jahre oder älter sein. Unsere Gesellschaft muß sich auf die wachsende Zahl Älterer und Hochaltriger einstellen - nicht nur auf neue medizinische Anforderungen, sondern auch auf neue soziale Herausforderungen." Mit diesen Sätzen stellte die Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) den "Vierten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland" vor. Das Problem ist somit den Politikern erwiesenermaßen bekannt.

Neu ist die Problematik allerdings nicht. Schon in den achtziger Jahren wurden die Folgen der steigenden Lebenserwartung von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern diskutiert Die politisch hinreichende Verarbeitung der seinerzeit geäußerten Bedenken blieb damals jedoch ebenso aus, wie auch heute kaum mit - selbst stillen - Gegenrevolutionen auf die "schleichende Revolution" zu rechnen ist. Ebenso wie sich die Rentenreform Anfang der neunziger Jahre nicht nur wegen des Zusammenbruchs des DDR-Regimes bald als Makulatur erweisen sollte, dürfte sich auch die Riester-Rente in der nächsten Zeit als Fehlschlag herausstellen. Der Kurs, den die demographische Entwicklung in Deutschland eingeschlagen hat, ist mit kurzatmigen tagespolitischen Schaumanövern ebenso wenig korrigierbar, wie die Fahrtrichtung eines Ozeanriesen durch Paddelschläge.

Ein bloßer Anstieg der Lebenserwartungen bewirkt für sich genommen noch keine dramatischen Folgen. Frauen werden heute durchschnittlich 83 Jahre alt, Männer 79, sie bleiben aber auch länger fit und im Prinzip mehr Jahre erwerbsfähig als früher. Das Regelalter für den Eintritt in die Rentenzeit liegt aber nach wie vor bei 65 Jahren. Das Durchschnittsalter für den tatsächlichen Einstieg in die Rente unterschreitet mittlerweile deutlich die 60-Jahre-Marke, wobei die Tendenz nach unten wegen der hohen Arbeitslosigkeit ab 50 Jahren immer mehr zunimmt. Dank des medizinischen Fortschritts könnte die Lebensarbeitszeit jedoch deutlich heraufgesetzt werden. Aus Gründen der zunehmend defizitären Situation des staatlichen Rentensystems müßte die Regelarbeitszeit sogar angehoben werden, um das System der Umlagefinanzierung zu retten. Je später der Eintritt in die Rentenphase, um so weniger Rentner müssen von den aktuellen Beitragszahlern unterhalten werden. Die Zahl der Beitragszahler steigt aber mit heraufgesetztem Rentenalter zusätzlich an. Zaghafte erste Rufe nach Erhöhung der Lebensarbeitszeit wirken daher verständlich.

Politisch dürfte dies aber nur schwer verkaufbar sein. Schließlich sieht die Rentenbilanz des Einzelnen genau umgekehrt aus: Je mehr Jahre Beiträge in das Rentensystem eingezahlt wurden, um so geringer ist der Gesamtertrag in der Rentenzeit, zumal die relativ hohen Beitragssätze im Verhältnis zu den schmalen Rentenzahlungen eine äußert geringe Kapitalverzinsung bewirken. Auf dem freien Kapitalmarkt lassen sich da wesentlich höhere Renditen erzielen. Eine Heraufsetzung der Beitragszeit kann diese Bilanz, selbst wenn die Rentenzeit durch die gestiegene Lebenserwartung konstant bliebe, nur noch verschlimmern. Notwendige scharfe Einschnitte im staatlichen Rentensystem werden immer weiter hinausgeschoben, weil die Parteien es sich nicht mit den Wählern verderben wollen. Bis der endgültige Zusammenbruch des Rentensystems unabwendbar ist.

Im Gesundheitsbereich ist der Anstieg der Lebenserwartungen noch problematischer. Der Anteil der Menschen ab 80 Jahre, der um 1900 etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmachte, liegt heute mit 2,9 Millionen Menschen bei etwa 3,5 Prozent. Nach den Schätzungen des Altenberichts steigt diese Zahl bis 2050 auf fast zwölf Prozent der Bevölkerung. Trotz aller medizinischer Fortschritte nimmt dabei der Anteil der pflegebedürftigen Alten dramatisch zu. Von den 80- bis 84jährigen sind heute 38 Prozent und bei den über 90jährigen mehr als 60 Prozent pflegebedürftig. Ähnliches gilt für Demenzerkrankungen. Bei den über 80jährigen ist jeder fünfte betroffen, bei den über 90jährigen jeder dritte. Alles bei zunehmender Tendenz. Die Hilfskonstruktion Pflegeversicherung zeigt, daß sich die Politiker dieses Problems durchaus seit längerem bewußt, aber auch hier nicht zu weitreichenden Maßnahmen bereit waren. "Die Familie ist, so weit es sie gibt, nach wie vor der zentrale Ort für die soziale Einbindung sowie der emotionalen und praktischen Unterstützung Hochaltriger. ... Familien leisten in Deutschland den Großteil der Pflege. Fast 90 Prozent aller Pflegebedürftigen und chronisch Kranken in Privathaushalten werden von ihren Angehörigen betreut", vermeldet die Bundesgesundheitsministerin in ihrem Bericht. Aber wie lange gilt das noch?

Der Altenbericht vergißt durchaus nicht - wenn auch mehr indirekt - auf den gravierendsten Problemmultiplikator hinzuweisen: Die mangelnde Bereitschaft der Deutschen, genügend Kinder in die Welt zu setzen. Bei einer schrumpfenden Bevölkerung mit immer weniger intakten Familien, steigenden Abtreibungszahlen, Single-Daseins-Verherrlichung, gepaart mit wachsender Pflegunwilligkeit, ist das Wegbrechen der originären sozialen Stütze der Gesellschaft in Form der Familie absehbar. Wer in dieser Situation die Zuwanderungskarte spielt, propagiert in zynischer Weise den Sklavenstaat der sozialen Ausbeutung gutgläubiger Zuwanderer. Helfen können sich die Deutschen letztlich nur selbst, wenn sie es denn noch wollen.


 
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