© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Pankraz,
E. K. Scheuch und der Frust der Konservativen

In einem hübschen Bändchen hat jetzt die Münchner "Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung" (FKBF) die Reden herausgebracht, die kürzlich anläßlich der Verleihung ihres Baltasar-Gracián-Preises an Erwin K. Scheuch gehalten wurden. Hermann Lübbe war der Laudator, Scheuch bedankte sich; Lob- wie Dankesrede sind furios und verdienen ein nachträgliches Räsonnement.

Beide kreisen um die Frage, wieso ausgerechnet ein soziologischer Positivist und lebenslanger Beförderer des sozialen Fortschritts wie Scheuch einen dezidiert konservativen Preis verliehen bekommt - und wieso er ihn annimmt, statt ihn befremdet zurückzuweisen. Haben Konservatismus und Progressismus etwa die Plätze gewechselt, ist heute erklärter Konservatismus progressiv und erklärter Progressismus konservativ?

Die Lage ist, erfahren wir bei Lübbe wie bei Scheuch, komplizierter. Begriffe wie Konservatismus, Progressismus (respektive Liberalismus) oder Sozialismus stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert, wo sie deutlich unterscheidbare Standesinteressen und die damit verbundenen Rechtfertigungstheorien bezeichneten. Heute sind sie gewissermaßen freischwebend geworden, haben keine soziale Bodenhaftung mehr. Der Sozialismus wird als Ideologie nicht einmal mehr im kommunistischen China gepflegt. Marx wollte ihn einst von der Utopie zur Wissenschaft entwickeln, heute wird er, so Scheuch, "von dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zurückentwickelt zur moralisierenden Utopie".

Ähnlich ging es mit dem Progressismus/Liberalismus. Scheuch: "Er war so erfolgreich, daß es ihm geht wie der modernen Kunst. Die will durch Verletzung von Form und Inhalten Aufsehen erregen und weiß doch inzwischen gar nicht mehr, womit sie denn noch provozieren kann." Liberalismus und Sozialismus, (Pseudo-)Provokation und von jedem wissenschaftlichen Anspruch entblößte Utopie bilden inzwischen die Rechtfertigungs-Ideologie einer auf bloße Abwechslung erpichten, von spontanem Haß auf alles wirklich Bestehende erfüllten Medien- und Pöstchen-Aristokratie, die bei uns die Macht übernommen hat und das Land in den Sumpf der "Beliebigkeit" (Scheuch) hineinzieht.

Am Beispiel der aktuellen Diskussion um Nationalstaat, Multikulti-Szene und Zuwanderung demonstriert der Träger des Gracián-Preises in seiner Rede die Herrschaft der Beliebigkeitsklasse und ihre Folgen. Der Nationalstaat, ursprünglich ein linkes Projekt, und - damit verbunden - das "Volk" seien ja die notwendigen Bezugspunkte für Demokratie und Sozialstaat. Letztere werden angeblich auch von der Beliebigkeitsklasse hochgehalten, aber diese heute herrschende Klasse sei gleichzeitig leidenschaftlich gegen Nationalstaat und den Begriff des Volkes, der regelrecht tabuisiert werde. Wie gehe das zusammen?

Nun, Scheuch nimmt kein Blatt vor den Mund: "Volk impliziert eine Wertegemeinschaft, eine kulturelle Übereinstimmung. Das aber gilt als Unwert für den Gegenbegriff, die multikulturelle Gesellschaft. Das meint nicht die Freizügigkeit, die inzwischen in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft füreinander verpflichtend ist, sondern bedeutet einen völligen Werterelativismus. Der soll vorherrschend werden durch möglichst hohe Zuwanderung von Muslimen und Afrikanern. Je fremder die Kultur der Zuwanderer, umso erwünschter ... Man will tatsächlich einem Arbeiter bei uns zumuten, einen muslimischen Türken mit zwei Frauen und 14 Kindern durch Sozialhilfe zu subventionieren."

Und wo bleibt bei alledem der Konservatismus? Auch seine ständischen Bindungen sind seit dem neunzehnten Jahrhundert aufgelöst, auch er ist freischwebend geworden. Doch seine semantische Substanz machte ihn als Baustein für moderne Beliebigkeitstheorien ziemlich ungeeignet. So geriet er automatisch auf die andere Seite, wurde zum Sammelbegriff für alles, was die Beliebigkeitsklasse verketzert und vernichtet sehen möchte.

Mit den Worten von Scheuch: "Konservativ oder rechts werden nicht zur Kennzeichnung von Sachen benutzt, sondern sollen in der veröffentlichten Meinung die Kennzeichnung von Einzelpersonen und Einzelsachen erzwingen, ohne daß hierfür die sachlichen Pros und Contras abgewägt werden. Es sind Tabubegriffe, welche die Herrschaft von Linken erleichtern sollen."

Oft schon ist aber in der Geschichte der politischen Kampfbegriffe und des politischen Sprechens überhaupt passiert, daß aus Schimpfwörtern Lobwörter wurden, besonders wenn es sich um freischwebende bzw. freigesetzte Wörter handelte, die ihren neuen Sinn erst suchten. Und so scheint es sich auch mit dem Wort "Konservatismus" zu verhalten, jedenfalls nach der Auffassung von Erwin K. Scheuch und Hermann Lübbe.

Je mehr sich die Beliebigkeitsklasse durch ihr Treiben blamiert, je mehr Leute erkennen (und erleiden müssen), daß diese Klasse möglicherweise zwar die Langeweile etwas dämpft, aber vollkommen unfähig ist, für haltbare soziale Ordnungsrahmen zu sorgen und ein Vokabular zu verwenden, mit dessen Hilfe man wirklich debattieren und sich über Sachverhalte verständigen kann, umso attraktiver werden die von ihr installierten Verteufelungs- und Gegenbegriffe, und heißen sie rechts und konservativ. Auch ein (so Lübbe über den neuen Gracián-Preisträger) "entrüstungsabstinenter und mit publizistischer Zivilcourage ausgestatteter Empiriker" läßt sich dann willig einen Konservativen nennen.

Es ist dies freilich eine Duldung auf Zeit. Sie gilt nur solange, solange sich nicht Kräfte des Begriffs bemächtigen, die gar keine ernsthafte Alternative zur Beliebigkeitsdiktatur wollen und nur allzu bereit sind, Worte aus taktischen Gründen zu Huren zu machen. Im Gegenfalle würde für Scheuch wohl ein Ausspruch seines Preispatrons Baltasar Gracián wichtig: "Sich zu verweigern, kann ein Heiligtum der Klugheit sein."


 
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