© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Lesen und lesen lassen
Warum sich Hörbücher steigender Beliebtheit erfreuen
Silke Lührmann

Im strikten Wortsinn sind Hörbücher keine Bücher, sondern CDs oder Kassetten - wer kennt nicht mehr die Märchen- oder Abenteuerplatten aus der Kindheit? Ursprünglich zugeschnitten auf die speziellen Bedürfnisse einer Randgruppe aus Alten, Blinden und Vereinsamten, denen vorzulesen sich niemand die Zeit nehmen wollte, bringen Hörbücher den Verlagen inzwischen erkleckliche Umsätze ein.

Das Angebot der Internetbuchhandlung Amazon reicht von den aufwendig inszenierten "Geisterjäger"-Hörspielen des Bestseller-Autoren John Sinclair über "Die schweinischten Stellen aus dem Alten Testament", gelesen von Harry Rowohlt, bis zu akustisch anstrengenden Mitschnitten von Dichterlesungen, von Goethes "Reineke Fuchs" bis zu "Fünf Jahrzehnte Fußball im Originalton". Hugendubel stellt seinen Kunden jeden Monat ein neues Werk zum Reinhören bereit. Das "Hörspielkino unterm Sternenhimmel" im Berliner Planetarium ist an den meisten Wochenenden ausverkauft - egal, ob arabische Erotik der "Tausendundeinen Nacht" auf dem Programm steht oder Henrik Mankells Detektivgeschichten aus dem kühlen Norden.

Immer mehr Menschen sehnen sich offenbar nach dem Luxus, einmal etwas nicht selber tun zu brauchen: machen zu lassen (am besten von Profis), statt machen zu müssen. Man kann das Dienstleistungsmentalität nennen oder gleich Faulheit, muß man aber nicht. Denn was gibt es Wundersameres, ja Sinnlicheres, als Geschichten erzählt zu bekommen: die Augen zu schließen und von einer Stimme, der man vertraut, in fremde Welten entführt zu werden? Auch wenn die Stimme aus der Konserve schallt, ist sie menschlich, nicht mechanisch - sie gehört einem Lieblingsschauspieler oder spricht gar mit der Autorität des Autors selber.

Feierabend in den öffentlichen Verkehrsmitteln jeder beliebigen Großstadt: Eine ältere Dame mit verkniffenem Lippenstiftmund und gestrengem Hosenanzug liest eine historische Romanze, einen dicken Schinken mit buntem Titelbild. Noch vor einer halben Stunde verbreitete sie im Büro Angst und Schrecken, nun ist sie auf dem Weg in eine kalte Wohnung, um die Katze zu füttern und sich einen Kamillentee zu brühen. Neben ihr sitzt eine Endzwanzigerin mit schmollendem Lippenstiftmund und adrettem Kostüm. Sie ist in einen Krimi vertieft, einen schmalen Band mit einer Leiche auf dem Titelbild. Noch vor einer halben Stunde erregte sie die Gelüste ihrer Kollegen, aber für die After-Work-Lounge war sie zu erledigt. In ihrem Ein-Zimmer-Apartment angekommen, streift sie die Pumps von den geschwollenen Füßen und rührt sich einen Slimfast-Shake. Und dann? Ein bißchen menschliche Wärme wäre schön, eine Stimme, die die Stille zerreißt, aber zuviel Menschlichkeit bringt das Leben durcheinander, weil sie sich nicht wie irgendein Haushaltsgerät an- und abschalten läßt. Fernsehen ist unbefriedigend, die Bildschirmfiguren leben in luftdichten Containern, sind sich selbst genug. Das Telefon schweigt, selber zu wählen kostet Überwindung.

Und wer sich noch nicht dem Trend der Alleinlebenden angeschlossen hat, ist heilfroh, der lärmverseuchten Umwelt seiner Familie und sonstigen Mitbewohner ab und an zu entkommen. Mit Kopfhörern auf den Ohren wirkt man überzeugender beschäftigt, als mit einem Buch im Schoß - auch wenn die geschulte Sekretärin erst entspannen kann, nachdem sie sich den reflexartigen Griff zum Stenoblock abgewöhnt hat.

Sowohl institutionell als auch ästhetisch wird Literatur zunehmend als "Performanz" verstanden. Die im angelsächsischen Raum so populären Poetry Slams erfreuen sich auch in Deutschland wachsender Beliebtheit: Wortgefechte, die den Klang zum Sinn machen. Der "Akt des Lesens", den die spätmoderne Philologie für eine Matritze zum Akt des Lebens - dem subjektiven Umgang mit Erfahrungen - hielt, verliert an Bedeutung. In Büchern kann man hin- und herblättern, Fäden verlieren und wieder aufnehmen, Stellen nachlesen, deren volle Bedeutung sich erst im Rückblick erschließt. Der Zuhörer gibt diese Freiheit preis, erbittet Geleitschutz, um sich geradlinig durch den Erzählstoff schleusen zu lassen.

Ihren wohl praktischsten Nutzen finden Hörbücher beim Erlernen von Fremdsprachen. Die Romanlektüre vertieft den Wortschatz und das Wohlbefinden in einer fremden Kultur. Hörverstehensübungen sind unerläßlich, um ein Gefühl für Intonation und Idiomatik zu entwickeln.

Insassen eines Informationszeitalters lesen den ganzen Tag, und das meiste, was sie lesen, sind Sprachfetzen, die sofort im inneren Papierkorb landen, weil sie des Reißwolfs gar nicht wert sind. Wer im Büro, auf der Baustelle, in der Fabrikhalle, zu Hause oder im Geschäft Radio hört, wird ähnlich mit achtlosem Geplapper zugemüllt. Literatur mag ein Halluzinogen sein, das Fluchtwege aus der Wirklichkeit vorgaukelt. Als solches steht sie nicht allzu hoch im Kurs in unserer faktensüchtigen Zeit, in der sogar das Virtuelle auf seine Realität pocht.

Doch im Gegensatz zur stetigen Berauschung des Alltäglichen ist der Griff zum Buch (wie zum Hörbuch) eine Geste der Autonomie: ein Meilenstein auf dem Weg zu der von Michel Foucault angemahnten - und in der Spaßgesellschaft zu oft mißverstandenen - "Sorge um das Selbst".


 
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