© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   19/02 03. Mai 2002


Das Ende der Unschuld
Nach der Erfurter Bluttat muß sich die Gesellschaft wieder auf bindende Werte verständigen
Bernd-Thomas Ramb

Mit Ritualen versuchen die Spitzenpolitiker auf die schrecklichen Ereignisse in Erfurt zu reagieren. Dazu zählen vor allem rasche Betroffenheitsbekundungen möglichst vor Ort. Die Angst vor einem Formfehler in Zeiten des Bundestagswahlkampfs bestimmt zweifellos die parteipolitischen Reflexe. Einen faden Beigeschmack hinterlassen auch die eiligen Vorschläge, dem Ort des Grauens Denk- und Mahnmalsplaketten anhaften zu wollen.

Einen beachtlichen Gegensatz dazu bilden die Reaktionen der Schüler des Gutenberg-Gymnasiums, die teilweise unmittelbare Zeugen der Bluttat wurden. Ihre Sprecherin, die Abiturientin Michaela Seidel, hat sich mit Worten, die eine wahrhafte Reife attestieren, gegen eine Mahnmalsgestaltung ihrer Schule ausgesprochen. Die Erinnerungen würden auch ohne äußere Kennzeichnung bleiben. Verständlich auch die Forderung der Schüler, die Klassenverbände jetzt nicht zu zerreißen und keine längere Stillegung des Gebäudes anzustreben. Sie wollen baldmöglichst in ihre Schule zurückkehren. Der Wunsch nach Geborgenheit in der Schule übersteigt das Trauma der Geschehnisse in diesem Hause.

Grundsätzlich lobenswert auch die Bitte des thüringischen Ministerpräsidenten an die Allgemeinheit um Mitgefühl und Solidarität mit den Menschen in Erfurt - und um ein wenig Zeit zur Besinnung. Das bezog sich sicher auch auf die ersten schnellen Analysen und vorsorgenden Empfehlungen. Gewiß bedarf es einer sorgfältigen Betrachtung, insbesondere bevor gesetzgeberische Schritte eingeleitet werden. Andererseits dürfen die Eindrücke nicht verblassen, damit nach dem Prinzip "Aus den Augen, aus dem Sinn" alles beim alten bleibt und das Massaker von Erfurt als einmaliges, zumindest aber selten wiederkehrendes Ausnahmeereignis zu den Akten gelegt wird.

Die gezielte Ermordung von Lehrern, nichts anderes war das Tatmotiv des 19jährigen, kann jederzeit wieder passieren, wenn nicht der Versuch unternommen wird, die Ursachen für diese Handlungsweise aufzudecken und abzustellen. Es wäre verhängnisvoll, wenn sich die Öffentlichkeit allein an der hohen Zahl der Opfer orientieren und zur Einschätzung kommen würde, daß eine solche Tat in diesem Umfang kaum erneut zu befürchten sei.

Die Ursachen für die Massenerschießung im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sind sicher vielschichtig. Ob ein einzelnes Motiv ausschlaggebend war und welche Gewichtung anzulegen ist, kann nicht das Hauptziel der Analyse sein. Wichtiger ist die möglichst umfassende Berücksichtigung wahrscheinlicher Faktoren. Bei einigen bedarf es keiner langen Untersuchungszeit, sie liegen deutlich vor Augen. Die enorme, schulisch bedingte, psychische Belastung des Täters einerseits, die erschütternde Leichtigkeit, an die Tatwerkzeuge heranzukommen, andererseits. Dahinter steht, gewissermaßen grundlegend für die Tat, die geringe Fähigkeit des Mörders, die Verwerflichkeit seiner Tat zu erkennen und begreifen.

Die psychische Belastung wurde durch mehrere Faktoren verstärkt, am meisten durch die Schulsituation. Der Täter war im letzten Jahr durch die Abiturprüfung gefallen. Die Möglichkeit zur diesjährigen Widerholung hatte er durch Fehlen im Unterricht, gefälschte Entschuldigungen und den dadurch hervorgerufenen Schulverweis verwirkt. Diese trostlose Lebenssituation wurde durch die im bundesweiten Vergleich einzigartige Schulpolitik Thüringens verschärft, versagenden Abiturienten noch nicht einmal einen untergeordneten Abschluß zu attestieren. Studium oder Hilfsarbeiter meint das thüringische Kultusministerium als Alles-oder-Nichts-Alternative präsentieren zu müssen. In allen anderen Bundesländern erhalten die Schüler in der Regel nach Beendigung des neunten Schuljahrs den Hauptschulabschluß, nach Ende des zehnten den Realschulabschluß.

Hinzu kommt die allgemeine Verherrlichung des Abiturs als scheinbar lebensnotwendige Grundlage. Wer "nur" Realschulabschluß oder gar Hauptschulabschluß besitzt, gilt gesellschaftlich immer mehr als Mensch zweiter und dritter Klasse. Eine erste große Aufgabe, die weniger politisch als gesellschaftlich dringend zu lösen ist, wäre die Bekämpfung dieser fatalen Diskriminierung.

Das Problem der Waffenbeschaffung, die dem Täter aufgrund seiner Mitgliedschaft in zwei Schützenvereinen erleichtert wurde, ist nicht mit einer oberflächlichen Verschärfung des Waffengesetzes zu lösen. Gewiß läßt sich generell bezweifeln, ob einem 19jährigen schon eine Waffenkarte ausgehändigt werden sollte, die zum Erwerb von jeweils zwei Kurz- und Langfeuerwaffen samt unbegrenzter Munition berechtigt.

Andererseits bestehen gerade in den östlichen Bundesländern vielfältig Möglichkeiten, Waffen illegal zu erwerben. Die gewissenhafte Eignungsüberprüfung vor der legalen Vergabe von Waffenscheinen muß unterbewußt als überzogen erscheinen, wenn psychopathische Waffennarren für ein paar Euro an der nächsten Straßenecke die modernsten Schnellfeuergewehre illegal erwerben können.

Eine verschärfte Bekämpfung des illegalen Waffenhandels dürfte daher als vorrangig gegenüber einer formalen Verschärfung der Waffengesetze einzustufen sein. Das würde automatisch auch eine noch strengere Bewertung legaler Waffenscheinanträge nach sich ziehen.

Gesellschaftspolitisches Hauptaugenmerk verdient jedoch die moralische Beurteilung des Mordrauschs, der wegen der gezielten Opferwahl eben kein wahnsinniger Amoklauf war. Was bewegt - bei aller Beachtung der psychischen Belastung, die bis zum Beschluß des Selbstmordes reicht - einen Menschen dazu, andere Menschen zu töten? Die Mußmaßung, der Täter sei durch gewaltverherrlichende Musik, bluttriefende Killer-Computerspiele und tagtägliche Gewaltdarstellungen im Fernsehen abgestumpft gewesen, kann nur teilweise Erklärung bieten. Sicher ist die zunehmende Verwischung von Realität und Virtualität ein unübersehbares Problem der heutigen Gesellschaft. Mehr aber noch beunruhigt die fehlende religiöse Selbstbindung.

"Du sollst nicht töten" ist mehr als ein Gesetzesparagraph. Die Vorstellung, damit eine Todsünde zu begehen, besteht bei immer weniger Menschen. Der Glaube an die damit verbundene ewige Verdammnis ist für viele nur noch ein Ammenmärchen. Der säkulare Staat tut ein übriges, um die religiöse Bindung, die sich nicht einmal monopolistisch auf das christliche Abendland berufen müßte, in der Gesellschaft aufzulösen. Tatort war das Gutenberg-Gymnasium, benannt nach dem Erfinder des Buchdrucks. Sein erstes Ziel war der Massendruck der Bibel. Ist das nicht auch als Hinweis zu verstehen?


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