© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002

 
Akte der Zerstörung
Die zunehmende Zahl von Amokläufen weist auf schwerwiegende Fehlentwicklungen hin
Karlheinz Weißmann

Im Februar des vergangenen Jahres gingen Bilder durch die Medien, die triumphierend schreiende Männer mit abgeschlagenen Menschenköpfen auf den Straßen der kleinen Städte Indonesisch-Borneos zeigten. Es handelte sich um den Höhepunkt eines über Wochen eskalierenden Konflikts zwischen Autochthonen und Zugewanderten. Die einheimischen Dayak vertrieben schließlich die Maduresen, vernichteten ihre Häuser, Brunnen und Anpflanzungen.

Was an dem Geschehen so beunruhigte, war die völlige Hemmungslosigkeit der Dayak. Über Jahrzehnte hatte die indonesische Regierung mit Hilfe katholischer Missionare versucht, dieses Volk nicht nur aus der Steinzeit in die Moderne zu führen, sondern ihm auch die Orientierung aller Werte an Krieg und Kopfjagd abzuerziehen. Vergeblich, wie man jetzt feststellen mußte, und mehr noch: die Massaker an den Maduresen, bei denen es immer um die totale Auslöschung der Anderen ging, unter Einschluß von Frauen, Kindern und Alten, beweglicher und unbeweglicher Habe, wurden in einer Art Rausch vollzogen: "Die Macheten und Speere der Dayaks haben Seelen wie Vögel, sie wissen, wer aus Madura kommt und wer nicht."

Es lag schon wegen des kulturellen Zusammenhangs nahe, für diese Vorgänge das Wort "Amok" zu verwenden, das ursprünglich aus dem Malayischen stammt. Der Kriminologe Hans von Hentig hat den Amok definiert als "... wild erregten Lauf ... durch Anfall ausgelöst, ein ruheloser Dämmerzustand, der in die raubtierähnliche Bewegung überleitet. Am Ende stehen Akte der Zerstörung. Menschen und Tiere, zumal fliehend, reizen zu Vernichtungsakten." Hentig zitiert dann einen Amokläufer, der über sein Motiv erklärte, er habe die "ganze Erde ... mit seiner Hand erschlagen" wollen.

Die Analyse des Amok stellt vor erhebliche Probleme, nicht zuletzt deshalb, weil er häufig im Selbstmord endet. Es ist unklar, ob immer eine massive psychische Störung als Ursache zu gelten hat und wie weit das Moment der Planung eine Rolle spielt. Offen muß auch die Frage bleiben, ob es derartige "Läufe" in der Tierwelt gibt (etwa die stampede großer Herden). Fest steht allerdings, daß der Amok als Phänomen lange bekannt war, bevor Völkerkundler den neuen Begriff Ende des 19. Jahrhunderts in Europa einführten. Unter den Bedingungen des revolutionären Zeitalters hatte man genügend Gelegenheit, auch außerhalb des kriminellen Bereichs dem Amok zu begegnen (darauf bezogen Schillers Verse "Da werden Weiber zu Hyänen / und treiben mit Entsetzen Scherz, / noch zuckend mit des Panthers Zähnen / zerreißen sie des Feindes Herz").

Genauere Aufzeichnungen über Amokläufe gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Darstellung jenseits der wissenschaftlichen Publikationen, in Zeitung und Moritatengesang, löste regelmäßig großes Interesse beim Publikum aus, das durch die Umstände der Taten fasziniert war. Die Morde an nahen Verwandten, das offenbar Sinnlose des Vorgehens und seine Bestialität sowie die Benommenheit des Mörders weckten ein morbides Unterhaltungsbedürfnis. Das fremdartige des Begriffs "Amok" hat dazu noch weiter beigetragen.

Allerdings war der Amok dabei immer etwas, das als nur-pathologisch betrachtet wurde. Er hatte damit eine ganz andere Stellung als in den archaischen Gesellschaften. Die griechische Antike kannte die blutige Raserei der Mänaden und des großen Ajax, aus der germanischen Überlieferung wären Berserker und die "Hundeköpfigen" bei den Langobarden zu nennen, die im Kampf ganz außer sich gerieten und schlimmstenfalls nach dem Sieg in den eigenen Reihen wüteten.

Es gibt Hinweise darauf, daß solche Formen des Amoks in der Vergangenheit gehegt wurden, indem man sie in Krieg oder Kultus gezielt zum Ausbruch trieb oder die Gefährlichen aus der Gemeinschaft ausstieß; darauf deutet die auf Island verfügte Friedloslegung des Berserkers. Über solche Möglichkeiten verfügen moderne Gesellschaften nicht. Ihre Individualisierung und die Auflösung der traditionellen Bindungen (vor allem für die jungen Männer) spielt dabei ebenso eine Rolle wie das unvermittelte Nebeneinander von totaler Pazifizierung und Denunziation des Kriegerischen einerseits, virtueller Hochrüstung und Feier der Aggression in allen Medien andererseits.

Im Blick auf die Ereignisse in Erfurt ist es notwendig, nicht nur einen Bezug zur wachsenden Anzahl "grundloser" Gewaltakte Jugendlicher herzustellen. Es genügt auch nicht, auf die besonderen Probleme an Schulen in den neuen Bundesländern hinzuweisen, ein Mehr an Therapie oder ein Mehr an Repression zu verlangen. Vielmehr muß man im Schrecklichen der Tat ein Indiz erkennen für eine große Fehlentwicklung. Die nordamerikanische Gesellschaft geht Europa auch auf diesem Weg voran. Seit dem Beginn der achtziger Jahre hat dort die Zahl der Amokläufe immer weiter zugenommen. Die dafür vorgetragenen Erklärungen - vom leichten Zugang zu Waffen über die Gewaltdarstellung in Fernsehen und Videospielen, über die Wohlstandsverwahrlosung bis zu den besonderen Integrationsschwierigkeiten für Außenseiter an den Highschools - sind weder ganz überzeugend, noch haben sie auf Möglichkeiten zur Abhilfe hingewiesen.

Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein und eine Tat als Modell für andere zu dienen. Nach dem Amoklauf eines Schülers in Santee bei San Diego im März des vergangenen Jahres wurden innerhalb einer Woche acht Jugendliche in Kalifornien festgenommen, die sich von den Morden angespornt fühlten und Vorbereitungen trafen, um Lehrer und Mitschüler zu töten. Während der Täter von Santee alle Merkmale des Amokläufers aufwies und nach der Festnahme keine Auskunft über seine Motive geben konnte, war bei denjenigen, die ihn nachahmen wollten, das hohe Maß an Kaltblütigkeit überraschend.

In Deutschland hat es in den vergangenen beiden Jahren sechs Fälle gegeben, deren Schwere den Vorgängen in Erfurt ähnelt. Allerdings forderte keine einen vergleichbaren Blutzoll. Auch das sollte zur Mahnung dienen, aber mehr noch zur Analyse zwingen. Die darf nicht länger behindert werden durch die regelmäßige Beschwörung von Gewaltlosigkeit, gutem Willen und Betroffenheit, aber sie kann die Grundsätze einer guten Ordnung auch nicht einfach "dogmatisch" verkünden (Jürgen Kaube). Erziehung hat einen umfassenderen Sinn, der darauf zielt, die Tugend einzuüben und soweit als möglich den Gefahren der Haltlosigkeit vorzubeugen.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und un-terrichtet als Studienrat an einem Gymnasium.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen