© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   19/02 03. Mai 2002


Blick in die Medien
Selbstkasteiung
Ronald Gläser

Seit der Spiegel vor kurzem eine ganze Serie über die Vertreibung produzierte, haben sich die Medien dieses Themas angenommen. Ein selbstkritischer Günter Grass reist durchs Land und beklagt die Tragödie der Ostdeutschen. Er betreibt (typisch deutsche) Selbstkasteiung. Dahinter steckt mehr als eine verkaufsfördernde Maßnahme für sein jüngstes Elaborat "Im Krebsgang". Erst in der vergangenen Woche beschuldigte er die ältere Generation wegen ihres kollektiven Schweigens. Er habe auch kein Tabu gebrochen, führte der Schriftsteller aus. Man hätte jederzeit darüber reden können. Wohl wahr! Aber war die Stimmungslage nicht so, daß das Schicksal der Vertriebenen geradezu verschwiegen wurde? War es nicht das soziokulturelle Umfeld Grass', daß die Politische Korrektheit produziert hat? Diese Stimmungslage offenbart ein Beschluß des Berliner Abgeordnetenhauses. Auf Antrag der CDU und mit der erforderlichen Zustimmung des Senats hat man Marlene Dietrich zur Ehrenbürgerin ernannt. Die Abgeordneten krönen die Frau, die den Luftkrieg der Angloamerikaner bejubelt hat. Dieser Luftkrieg hat den Tod vieler Großmütter dieser Parlamentarier herbeigeführt. Eine andere Form skurriler Vergangenheitsbewältigung lieferte der Tagesspiegel. Die Zeitung widmete sich dem zwanzigsten "Jubiläum" des Skandals um die Hitlertagebücher. In Wirklichkeit habe es sich um eine Verschwörung von NS-Seilschaften gehandelt, die diesen inszeniert habe. Und die FDP bekommt 18 Prozent bei der Bundestagswahl. Ronald Gläser


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