© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Die Republik wankt
Verlierer der Präsidentschaftswahl in Frankreich ist die politische Klasse
Alain de Benoist

Jahrelang war Jacques Chirac bei den französischen Linken als korrupter und unfähiger Politiker verschrien. In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen konnte er - dank der Unterstützung der gesamten politischen Klasse, von den Zentristen und den Liberalen über die Sozialisten bis zu den Kommunisten und Trotzkisten - 82 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und wird damit als derjenige Präsident in die Geschichte der Fünften Republik eingehen, der mit der größten Mehrheit gewählt wurde! So etwas ist offenbar nur in Frankreich möglich.

Jean-Marie Le Pen konnte die eigenen Erwartungen nicht erfüllen. Nachdem er großspurig verkündet hatte, er werde ein Ergebnis unter 30 Prozent als "Niederlage" werten, gelang es ihm lediglich, seinen Stimmanteil vom 21. April zu halten. Insgesamt gewann er etwa 15.000 Stimmen hinzu. Ein durchaus nicht unbeträchtlicher Erfolg, wenn man bedenkt, daß er mehr Stimmen erhielt als Chirac im ersten Durchgang. Dies hat ihn bereits dazu verleitet, seine Partei, den Front National (FN), als "die erste politische Kraft im Lande" zu bezeichnen.

In den vergangenen zwei Wochen hatte sich ein regelrechtes Psychodrama entfaltet. Sie waren bestimmt von zahllosen Demonstrationen, unaufhörlichen Anspielungen auf die Vergangenheit und einer medialen Flutwelle von Propaganda, die sich gegen Le Pen richtete.

Einem Politiker gegenüber, der sich auf die Jungfrau von Orleans beruft, wußte die Linke sich nicht anders zu behelfen, als zu einem "Schulterschluß gegen die Rückkehr des Faschismus" aufzurufen. Sie übersieht dabei, daß der Faschismus das Produkt einer Epoche war, die mit der unseren nichts gemein hat, und weigert sich einzusehen, daß kein noch so wehrhafter "Antifaschismus" die alltäglichen Probleme des Volkes zu lösen vermag.

Der Appell der Linken, für Chirac zu stimmen, war um so ungeschickter, als Le Pen niemals auch nur die geringste Chance hatte, gewählt zu werden. Die Linke beklagt ständig, daß die Wähler nicht zwischen Rechts und Links unterscheiden - eine solche Wahlempfehlung kann die Verwirrung nur verschlimmern! Und Sprüche wie "Wählt den Betrüger, nicht den Faschisten" können unverhoffte Wirkungen zeitigen, wenn sich ihre symmetrische Umkehrung in den Köpfen der Menschen festsetzt: "Faschisten sind ehrlich!"

Die wahre Kraftprobe steht noch bevor: die Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni. Die Linke steht unter dem doppelten Schock, die Folgen ihrer Zersplitterung erlebt und mit dem Rücktritt Lionel Jospins ihren Chef verloren zu haben. Sie wird gemeinsame Front machen, um den Sieg davonzutragen. Die Rechte ruft in der Hoffnung, eine erneute "Kohabitation" vermeiden zu können, zu einer massiven "Sammlung" auf. Der Front National kann weiterhin auf seinen festen Sockel von fünf Millionen Wählern zählen und hat seine Bastionen im Norden, im Osten und vor allem an der Mittelmeerküste sogar verstärken können. In etwa der Hälfte der insgesamt 577 Wahlkreise dürfte er am 9. Juni die Stimmen von 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler erhalten, die nötig sind, um in die zweite Runde einzuziehen, wenn in der ersten keine absolute Mehrheit erreicht wird.

Die Präsidentschaftswahl der letzten Wochen markierte in dreifacher Hinsicht das Ende geschichtlicher Kontinuitäten. Zum einen zeigte sich, wie unbrauchbar die Unterscheidung zwischen Rechts und Links selbst auf dem einzigen Gebiet geworden ist, wo sie bislang überlebt hatte: in der Konfrontation zwischen den Parteien, die man als "Regierung" versteht. Die politische Klasse bestätigte zumindest indirekt den künstlichen Charakter dieser Konfrontation, indem sie dazu aufrief, im "Schulterschluß gegen Le Pen" für Chirac zu stimmen. Zugleich zeigte sie damit, daß Le Pen recht hat, wenn er behauptet, der einzige zu sein, "der für Veränderung steht". Als Kandidat der institutionellen Rechten und Linken wurde Chirac zum Symbol jener verlogenen "Kohabitation", gegen die sich so viele Wähler auflehnten.

Der zweite Zusammenbruch ist jener der politischen Klasse, die am 21. April sechs Millionen Stimmen an Protest- und extremistische Bewegungen verlor. Damit wurde offenkundig, daß sie mittlerweile nur noch ein Drittel aller Wähler vertritt.

Schließlich stellte das Wahlergebnis die Institutionen der Fünften Republik in Frage. Erst kürzlich hatte Frankreich die Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre verkürzt, um weiteren Kohabitationen vorzubeugen. Nun scheint die Republik mit zwei Köpfen unvermeidlicher geworden als je zuvor. Derzeit werden viele Hoffnungen auf eine Sechste Republik gesetzt, die entweder zu einem parlamentarischen Regime zurückkehrt oder dem Präsidenten mehr Macht verleiht.

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten dient die Stimmungsmache gegen Le Pen einer politischen Klasse, die wenig Verlangen verspürt, das Phänomen des Populismus ernst zu nehmen, als Identitätsersatz. Zwischen den beiden Runden der Präsidentschaftswahl ist es dieser politischen Klasse gelungen, der Bevölkerung einzutrichtern, daß Frankreich kurz vor einer Katastrophe steht, deren Verursacher Jean-Marie Le Pen heißt. Sie verschwendete keinen Gedanken darauf, sich zu fragen, wo die Ursache für Le Pen liegt und welcher Natur die enorme Zustimmung ist, die ihm bei diesen Wahlen zuteil wurde. Solche Fragen zu stellen hieße zu begreifen, daß die größte Verwerfung in Frankreich nicht mehr zwischen Rechts und Links, geschweige denn zwischen Faschisten und Demokraten, sondern vertikal verläuft: die Kleinen gegen die Großen, das Volk gegen die Eliten, die Volksklassen gegen die Neue Klasse. Es ist höchste Zeit, dies zur Kenntnis zu nehmen. Bislang macht die politische Klasse keinerlei Anstalten dazu.


 
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