© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
"Revolution des politischen Stils"
Der niederländische Soziologe Harry Daemen über das Phänomen Pim Fortuyn und den Menschen dahinter
Moritz Schwarz

Herr Professor Daemen, der Attentäter Pim Fortuyns scheint gefaßt zu sein. Vermutlich hatte er politische Motive für seine Tat, allerdings gebietet die Fairneß, andere mögliche Beweggründe nicht einfach auszuschließen. Werden in Holland noch weitere Tatmotive erörtert?

Daemen: Die meisten Zeitungen haben sich zumindest bislang mit Spekulationen über das Tatmotiv zurückgehalten. Einzig De Telegraaf meldete am Dienstag, die festgenommene Person sei für ihre linksgerichteten Sympathien bekannt.

Könnte es nicht auch ein wahnsinniger Einzeltäter gewesen sein oder private Zusammenhänge dahinterstecken?

Daemen: An die Annahme von einem wahnsinnigen Einzeltäter haben sich die Menschen in Holland am Montag Abend noch vornehmlich geklammert. Auf private Zusammenhänge gibt es bislang aber keine Hinweise.

Wenn doch ein politisches Motiv besteht, dann liegt natürlich die Frage nahe, wie war die politische Atmosphäre der letzten Tage in Holland?

Daemen: Gar nicht so aufgeregt. Der Wahlkampf lief, aber die politische Klasse hatte sich inzwischen mit der Beteiligung Pim Fortuyns abgefunden. Eine zunehmende Zahl Menschen in Holland begann Fortuyns Rolle zu schätzen, Initiator für neue Diskussionen zu sein, auch wenn sie seine politischen Auffassungen nicht mochten. Die Aufregung um Fortuyn war vor ein, zwei Monaten noch wesentlich größer.

Als Fortuyn mit 35 Prozent die Gemeinderatswahl in Rotterdam gewann.

Daemen: Ja, denn damals war sein Auftauchen neu und sein Aufstieg so rasant, das hat vielen Leuten Angst eingejagt. Doch inzwischen war er als politischer Gegner akzeptiert.

Gab es nicht auch eine politische Hetzkampagne gegen Fortuyn? Er wurde mit Haider gleichgesetzt, der wiederum bekanntlich gerne mit Hitler verglichen wird.

Daemen: Die meisten Politiker in Holland haben darauf verzichtet, Pim Fortuyn mit Jörg Haider oder Jean-Marie Le Pen zu vergleichen. Es wurde anerkannt, daß er kein Rassist ist. Sicher war er ein Populist, und er hat politische Positionen vertreten, die vielen nicht gepaßt haben, aber er wurde nicht als "finstere Kraft" gesehen, nicht als eine Art Filip de Winter der Niederlande.

Rechten politischen Personen wie Haider oder Le Pen wird gerne angehängt, sie wollten das etablierte politische System umstürzen. Damit erhält der Kampf gegen sie Notwehrcharakter, was wiederum die Assoziation an den Tyrannenmord oder den historischen Widerstand gegen die Nazis weckt, was politischen Mord plötzlich als legitim erscheinen läßt.

Daemen: So war das aber nicht in Holland. Pim Fortuyn wurde eine Revolution im politischen Stil zugeschrieben und tiefe Eingriffe in zum Beispiel die Organisation des Öffentlichen Dienstes. Aber ein Umsturz des politischen Systems wurde ihm von niemandem unterstellt.

Hatten die Angriffe gegen Fortuyn nicht dennoch etwas hysterisch-antifaschistisches?

Daemen: Zwei Dinge sind zu bedenken: Wir befanden uns am Tag der Tat neun Tage vor dem Wahlgang, selbstverständlich ist der Wahlkampf in dieser Phase ziemlich scharf. Und dieser Wahlkampf war besonders scharf, weil Pim Fortuyn selbst so ein scharfer Herausforderer war. Er liebte scharfe Debatten. Natürlich gab es auch politische Angriffe unter der Gürtellinie. Aber solche Angriffe gibt es in jedem Wahlkampf.

Die Frage bleibt, ob nicht auch diese vergleichsweise milde Kampagne dazu geführt hat, den Täter zu seinem Handeln zu ermuntern?

Daemen: Es ist nicht redlich, darüber in der Öffentlichkeit zu spekulieren. Ich habe natürlich meine private Meinung zu dieser Frage, aber es ist brandgefährlich, darüber in der Öffentlichkeit zu sinnieren. In solch einer heiklen Frage kann die Regel nur lauten: Erst die Fakten auf den Tisch und dann sehen wir weiter.

Und wenn die Fakten belegen, daß sich der Täter aufgerufen gefühlt hat?

Daemen: Gut - natürlich war die Kampagne scharf genug, eine krankes Hirn zu einer solchen Tat anzustiften, aber so scharf sind solche Kampagnen im Wahlkampf eigentlich immer. Aber bekanntlich kann selbst das Wort eines Weisen von einem Idioten als Anleitung verstanden werden, Unheil zu stiften. Man könnte also das Fazit ziehen, die Kampagne war scharf, aber nicht so scharf, daß sie als offene Einladung hätte verstanden werden können.

Die These zum Beispiel, daß Rudi Dutschke 1968 einer vornehmlich von der "Bild"-Zeitung angezettelten Kampagne zum Opfer fiel, ist nicht von der Hand zu weisen.

Daemen: Solche Spekulationen sind natürlich immer möglich, aber niemand weiß, was einen kranken Menschen letztlich dazu veranlaßt, auf die Straße zu gehen und andere Leute zu erschießen.

Das heißt, Sie halten es nicht für nötig, bezüglich des Stils der politischen Auseinandersetzung in den Niederlanden, ernste Konsequenzen aus der Ermordung Pim Fortuyns zu ziehen?

Daemen: Nein, denn es ist nicht möglich, daß die Politiker bei all ihren Äußerungen in Zukunft darauf Rücksicht nehmen, was eine kranke Psyche daraus so alles drehen könnte. Wenn die politische Debatte lebendig bleiben soll, dann können wir nicht auf prononcierte politische Attacken verzichten. Eine Sache, die wir von Pim Fortuyn gelernt haben, ist gerade, daß die bisherigen politischen Kampagnen zu dröge und zu wenig überzeugend waren. Das mag die Debatte zwar verschärfen, aber das ist Demokratie: Sie ist eben ein gewagtes politisches System.

Was halten Sie für die entscheidende politische Größe an der Gestalt Pim Fortuyns: War er in erster Linie ein politischer Rechter oder ein politischer Modernisierer?

Daemen: Er war eine Mixtur aus beidem. Er war bekanntlich ein gebildeter Sozialwissenschaftler, war also genau über die Funktionsmechanismen zwischen Wählerschaft und politischer Elite im Bilde. Er kannte die Funktionsweise der Bürokratie, der Medien, der Gesellschaft und verwendete demzufolge gerne Argumente des modernen Management, um die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und gab damit seiner Kritik einen überzeugenden, dynamischen und modernen Anstrich. Dies kombinierte er geschickt und unerwartet mit vergleichsweise nationalistischen Sentiments. Dazu kam als drittes Element noch Fortuyns Gabe, das Ganze so zu sagen, daß es auch der einfache Mann verstand, seine Aussagen mit solchen Fragen zu verbinden, die für den "gemeinen Mann" von Interesse sind. Und das Pikante ist, daß es wohl ausgerechnet der letzte Punkt war, der die etablierten Parteien am meisten verstörte.

Er war also in seiner Kommunikation demokratischer als die Demokraten?

Daemen: Pim Fortuyn sprach durchaus auch über komplizierte Fragen, wie das Gesundheitssystem, die Schulbürokratie, etc., aber selbst dann verstanden die Leute ihn. Er schaffte es auch bei solchen Themen, noch ihre vagen Ressentiments gegen das herrschende System zu mobilisieren.

Wie aber würden Sie die politische Welt des Pim Fortuyn beschreiben?

Daemen: Das läßt sich nicht mit einem ideologischen Begriff wie Liberalismus, Sozialismus oder Christdemokratie fassen. Sicher war er ein Nationalist in dem Sinne, daß er das politische und gesellschaftliche System Hollands und die traditionellen holländischen Werte besonders betonte. Er räumte auch den Menschen, die im Lande leben, Vorrang vor den Menschen, die von außen kommen, ein. Er war aber kein Nationalist im Sinne der Formel von Blut und Boden.

Er gab den Menschen also das Gefühl, nicht für irgendwelche abstrakten Werte zu stehen, sondern für ihre ureigene Sache: Eigentlich der Kern aller Demokratie.

Daemen: Nein, denn ich glaube, viele Menschen waren zwar bereit ihn zu wählen, aber nur wenige wollten ihn wirklich als Premierminister haben.

Sie meinen, daß ein Populist als Premierminister in den Niederlanden undenkbar wäre?

Daemen: Er war eine Person, die dem Gefühl der Menschen bezüglich ihres politischen Systems Ausdruck verlieh. Die Zustimmung zu Pim Fortuyn war also ein Ausdruck von Unzufriedenheit. Das heißt aber nicht, daß die Menschen sich eine neue Herrschaft in diesem Stil wünschen.

Die Menschen haben sich also emotional mit ihm identifiziert, nicht aber was ihre abstrakten politischen Vorstellungen angeht?

Daemen: Ganz genau.

Wie viele rechte Parteien in Europa heute definierte sich auch die Liste-Pim-Fortuyn (LPF) praktisch völlig über ihren politischen Führer. Wird die LPF, der gerade noch bis zu 25 Prozent bei den Parlamentswahlen am 15. Mai vorausgesagt waren, nun politisch verschwinden?

Daemen: Fortuyn war ursprünglich Journalist und Hochschulprofessor und beschloß erst vor etwa einem Jahr, die Bühne der Politik zu betreten. Er schaute sich alle Parteien an und war zum Beispiel zunächst Mitglied der sozialdemokratischen PvdA. Ende letzten Jahres tauchte die neue unabhängige Partei Leefbaar Nederland ("Lebenswerte Niederlande") auf und Fortuyn wurde bald Parteichef. Dann aber bezog er in puncto Einwanderung Positionen, die die Parteilinie verließen. Man trennte sich, und Fortuyn beschloß, nun seine eigene Partei zu gründen. Zur Gemeinderatswahl in Rotterdam im Februar nannte er diese noch Leefbaar Rotterdam, zur Parlamentswahl trat er schon mit seiner LPF an. Sie sehen also, wie abhängig die LPF von ihm ist, und ich vermute, nach seinem Tod wird die Partei "implodieren".

Das heißt, der Täter hätte auf der ganzen Linie gesiegt?

Daemen: Möglicherweise wird die LPF bei den Wahlen am 15. Mai noch einen Sieg erzielen, dank dem Märtyrertum Pim Fortuyns. Aber die Partei, die dann ins Parlament einzieht, wird sich wohl als sehr ineffektiver Verein erweisen und langfristig vermutlich verschwinden.

Also wird der politische Anstoß, den Pim Fortuyn gegeben hat, verpuffen?

Daemen: Das direkte Wirken Pim Fortuyns, sprich die LPF, wird verschwinden. Doch seine indirekte Wirkung, also sein plötzliches politisches Auftauchen und die Verwirrung, die er gestiftet hat, wird zu einem Nachdenken in den etablierten Parteien führen, und diese werden ihre Strategien überdenken. Ich hoffe also, daß das, was er an Lebendigkeit, Direktheit und Schärfe in die politische Auseinandersetzung gebracht hat, erhalten bleiben wird.

Dann ist der Tod Pim Fortuyns politisch gesehen ein großer Verlust für Holland?

Daemen: Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich begrüße, daß er die Debatte belebt und Themen auf die Tagesordnung gebracht hat, die viel zu lange unter dem Deckel der political correctness gehalten wurden. Aber ich stimme überhaupt nicht mit den politischen Lösungen überein, die er vorgeschlagen hat.

Wenn Fortuyn so deutlich Stellung gegen Ausländer bezog, warum finden sich dann unter seinen Verehrern gerade auch Ausländer?

Daemen: Pim Fortuyns Geheimnis ist, daß er exakt die Ängste und Hoffnungen des sogenannten gemeinen Mittelklasse-Manns angesprochen hat. Die Niederlande sind ein wohlhabendes Land, und auch ehemalige Einwanderer haben sich bis in die Mittelklasse hochgearbeitet. Und natürlich haben sie dieselben Ängste und Hoffnungen wie ihre weißen Nachbarn. Also vertrauen sie Pim Fortuyn, denn auch sie fühlen sich von neuen Immigranten bedroht.

Dann kann man Fortuyn allerdings schwerlich als ausländerfeindlich bezeichnen.

Daemen: Pim Fortuyn muß man wohl als jemanden betrachten, der Einwanderung ablehnte, weil sie die Stabilität unseres Sozialstaates gefährdet und die traditionellen Werte der holländischen Gesellschaft unterminiert. Seinen Widerstand sollte man nicht als Ablehnung der Einwanderer, sondern der Einwanderung erkennen. Natürlich ist das nur ein geringer, aber ein entscheidender Unterschied, wenn man Pim Fortuyn verstehen will, denn er hat diesen Punkt bei zahllosen Gelegenheiten klarzustellen versucht. Unglücklicherweise war er offensichtlich nicht sehr erfolgreich. Fairerweise muß auch gesagt werden, daß Fortuyn keine Maßnahmen gegen hier bereits legal lebende Einwanderer unternehmen wollte. Gerade hatte er noch erklärt, daß er sogar jene Einwanderer "legalisieren" wolle, die hier illegal, aber bereits sozial integriert leben.

Fortuyn wehrte sich vor allem gegen den zunehmenden Einfluß des Islam in Holland.

Daemen: Selbstverständlich gibt es eine Spannung zwischen multikultureller Vielfalt und den Werten, die die westlichen Nationen erreicht haben. Es ist nun die Aufgabe der Politik, hier die Balance zu finden. Fortuyn gab auch Antworten, aber - nach meiner Meinung - die falschen, denn Pim Fortuyn weckte Emotionen in Angelegenheiten, die besser nüchtern diskutiert werden sollten. Es ist nicht klug, eine Religion einfach als "rückständig" zu bezeichnen, es ist klüger, konkrete Ausprägungen dieser religiösen Vorstellungen zurückzuweisen und einen modus vivendi zu finden.

Werden sich die Niederlande nach diesem Mord verändern?

Daemen: Die Politiker werden in Zukunft vorsichtiger vor Anschlägen sein müssen, das wird unsere offene politische Kultur zweifelsohne verändern. Auf der anderen Seite erweisen sich die meisten Kulturen als recht resistent gegenüber solch einschneidenden Katastrophen, denken Sie nur an den 11. September: Trotz dieses Schocks fliegen die Leute heute genauso in den Urlaub wie früher.

 

Prof. Dr. Harry Daemen geboren 1949 in Brunssum / Niederlande. Er studierte Soziologie und Politologie und lehrt, wie sein am Montag ermorderter Kollege Pim Fortuyn, am Institut für Sozialwissenschaften der Erasmus-Universität Rotterdam.

 

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