© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Das Elend der Metaphysik
Kulturelle Hegemonie: Der italienische Marxist Gramsci und die deutschen Rechtsintellektuellen
Werner Olles

Die Enkel der Kritischen Theorie in der radikalen Linken haben den theoretischen Ansatz der "Dialektik der Aufklärung" nicht weiterentwickelt, sondern banalisiert und verflacht. Adorno und Horkheimer brachten noch die theoretische Kraft auf, den Nationalsozialismus als Ergebnis der Aufklärung und nicht als "Reich des Bösen" zu verstehen; gleichzeitig zeigten sie auf, daß die gesellschaftlichen Strukturen sowohl im Staatskapitalismus sowjetischer Prägung als auch in den westlichen Demokratien Elemente derselben Tendenz enthielten. Ihre Nachkommen dagegen verfälschten den Begriff der "negativen Aufhebung des Kapitalismus", indem sie mittels einer heuchlerisch-verlogenen Adorno-Orthodoxie eine linksradikale Variante spätbürgerlicher Nachkriegsideologie in diversen intellektuellen Nischen etablierten.

Inzwischen haben bedeutende Teile der aufklärerischen Linken in einem geistigen Amoklauf jegliche Kapitalismuskritik aufgegeben. In diesem Stadium der bürgerlichen Vernunft wird die stets geleugnete innere Identität von Liberalismus, Sozialdemokratie und Kapitalismus bis zur Kenntlichkeit deutlich. Als mögliche Alternative zu den Marotten der sechziger und siebziger Jahre, sich noch einmal in die Zeit- und Kampfgenossenschaft von Marx, Lenin, Mao & Co. hineinzuphantasieren, mag dies ja ganz originell sein.

In Wahrheit geht es aber wohl nur darum, hier eine Ernte einzusammeln, die dazu dienen soll, keinerlei soziale, kulturelle und historische Verpflichtungen im Rahmen der Einheit der Nation mehr zu erfüllen. Bestand der Kern des Marxismus in der Verbindung von kritischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Praxis, verwechseln seine unwürdigen Erben in einer Art komisch anmutender Realitätsverweigerung notorisch die begriffliche Dekonstruktion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit der Abschaffung derselben.

Die Rechte hat es in Deutschland von Anfang an viel schwerer gehabt. Sie hatte keinen Marx, nicht einmal einen Abendroth. Immerhin war es schließlich Heidegger, der nachwies, daß György Lukács' Geschichtsphilosophie nicht mehr zu halten war. Sekundiert von Horkheimers Skepsis vor vermeintlichen Metasubjekten der Geschichte, denen gegenüber dieser - in Anlehnung an Nietzsche und Schopenhauer - die Leiden des Individuums hervorzustreichen pflegte, verwarf Heidegger Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein" von 1923 als utopischen Fluchtpunkt einer Theorie, deren Konsequenz im Denken der radikalen Linken bisher stets ausgeblieben war.

Seit der gelungenen Integration der deutschen und italienischen Arbeiterbewegung in den Nationalsozialismus Hitlers und den Faschismus Mussolinis sind eine stattliche Anzahl von elaborierten Arbeiten zu Problemen der Metaphysik und zur kulturellen Hegemonie erschienen. Aber jene Begriffe beanspruchen nicht nur eine Defintion der politisch relevanten Akteure, sondern ebenso konkrete Aussagen über die politische Strategie. Sowohl auf dem Feld der praktisch-politischen Konsequenzen als auch auf der Ebene der gesellschaftstheoretischen Analyse zeigen sich aber hier die elementaren Schwächen einer Ideologie, deren Hauptmerkmal es ist, um keinen Preis eine Ideologie sein zu wollen.

Genau an diesem Punkt hat die intellektuelle Rechte - ob aus Verlegenheit oder aus Überzeugung - den marxistischen Theoretiker und zeitweiligen Führer der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci (1891-1937), ins Spiel gebracht. Gramsci, so wurde argumentiert, habe der Metaphysik und der kulturellen Hegemonie gewisse positive Qualitäten zugesprochen.

Das hat er tatsächlich, aber Gramsci befand sich nicht nur seit 1928 im Gefängnis des faschistischen italienischen Staates, er war auch ein "Gefangener des leninistischen Denkens", wie Karl Reitter völlig zu Recht schreibt. Er war ein Theoretiker der Komintern, der in den Kategorien des Klassenkampfes dachte, nicht nur der politischen Ökonomie, sondern jeglichen politischen Handelns.

Während er für Rußland den Leninismus akzeptierte, stellte er ihn für die fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten und Gesellschaften des Westens in Frage. Gramscis Leitmotiv war das Problem, wie die marxistische Revolution auch hier möglich gemacht werden könnte. Für die komplexe soziale Struktur der bürgerlichen Gesellschaft schien ihm die Gewinnung der Hegemonie auf dem Feld der Kultur die wichtigste Vorbedingung für die sozialistische Revolution.

Präzise Bezüge zum Denken und zum Werk des italienischen Marxisten Gramsci hat die intellektuelle Neue Rechte - trotz aller mannigfaltigen Berufungen auf ihn - bislang leider kaum hergestellt. Mehr als eine suggestive Bezugnahme auf sein Postulat über die Relevanz der kulturellen Hegemonie vor dem politischen Entscheidungskampf, dem "letzten Gefecht", ist den allermeisten Arbeiten nicht zu entnehmen. Um Gramsci zu verstehen, muß man ihn jedoch gegen den Strich lesen. Dann erweisen sich nämlich seine Konzepte als das genaue Gegenteil dessen, was die Rechte darunter zu verstehen glaubt.

Kultur, Tradition, Brauchtum und Sitten sind eben nichts Unbewertetes, sondern tragen immer und überall den doppelten Stempel von Herrschaft und Revolution. Erst diese Erkenntnis eröffnet das Feld der Alltagskultur und damit die Frage, welche Formen innerhalb dieser Kultur hegemonial werden. Gramsci hat daran festgehalten, daß die Gefahr sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern droht. Es müsse also in jeder Epoche versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzutrotzen, der im Begriff stehe, sie zu überwältigen.

Im Anschluß daran könnte man Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie auf folgenden Nenner bringen: "Eine Konservative Revolution ist prinzipiell nicht anders denkbar denn als Ergebnis eines ständigen Erstarkens nonkonformistischer Lebensformen und Strukturen, innerhalb derer antibürgerliche, konservativ-revolutionäre Kräfte hegemoniefähig werden."

Der Höhepunkt aller praktischen Versuche im Hier und Jetzt, mit neuen, nicht-bürgerlichen Lebensformen zu experimentieren, fand jedoch als Teil der Kulturrevolution von 1967/68 statt. Inzwischen mit ontologischen Weihen versehen, sind die Protagonisten dieser zweifellos bedeutendsten revolutionären Welle seit 1945 in den westlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnungen zu verkniffen-depressiven Verteidigern der "Zivilgesellschaft" verkommen.

Das sollte die intellektuelle Rechte jedoch nicht daran hindern, unvoreingenommen eine Analyse der Widerstandsformen jener Bewegung vorzunehmen, die immerhin eine gigantische Breite an Oppositionsformen aufwies. Dabei ist es völlig belanglos, ob man dies als Subkultur, Gegengesellschaft, Gegenkultur oder wie auch immer bezeichnet.

Zu bedenken ist aber auch, daß im Zeitalter der Globalisierung des Kapitals ein Prozeß moralischer Verwilderung, sozialer Zerrüttung und gesellschaftlicher Zersetzung stattfindet, der die inneren Widersprüche und die fortschreitende Krise des Gesamtsystems bis zu dessen Implosion forcieren wird. Diese Systemkrise setzt jedoch theoretische Einsichten und sozio-kulturelle Erfahrungsmomente frei, die den bei Gramsci kopierten Annahmen zum Teil grundlegend widersprechen.

Theorie erklärt, wie Horkheimer einmal schrieb, wesentlich den Gang des Verhängnisses. Treffender lassen sich längst außer Kurs gesetzte revolutionstheoretische Kategorien im letzten Stadium der bürgerlichen Vernunft in der Tat nicht beschreiben.

 

Fortunato Depero, "Hochlandschaft aus Stahl" (1927): Seit der gelungenen Integration der italienischen Arbeiterschaft in den Faschismus Mussolinis sind eine Reihe von Arbeiten zur kulturellen Hegemonie erschienen


 
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