© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Der Bußprediger
Richard von Weizsäckers familiäre Gedächtnislücken trüben sein historisches Urteilsvermögen
Doris Neujahr

Am 8. Mai 1985 hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag seine seither als "historisch" apostrophierte Rede zum Kriegsende 1945. Vor allem die Passage, die die angeblich absichtsvolle Blindheit der Deutschen gegenüber der Judenverfolgung ansprach, war von nachhaltiger Wirkung: "Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit über den Holocaust herauskam, beriefen sich allzuviele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben."

Es sei dahingestellt, ob diese Beschreibung der Wirklichkeit entspricht. Immerhin haben die Nazis alles getan, ihr Mordprogramm geheimzuhalten, weil sie die Deutschen für "nicht reif dafür hielten, und war der "Vorgang selbst ebenso präzedenzlos wie letztlich unvorstellbar" (H.-U. Thamer). Hinzu kam, daß der Gedanke an Gestapo und KZ die Menschen in eine Furcht versetzte, die, wie Hannah Arendt schreibt, nichts anderes war als "die Verzweiflung, nicht handeln zu können".

Weizsäcker machte daraus ein allgemeines Wegschauen und Schweigen aus moralischem Stumpfsinn. Damit hob er den linksintellektuellen Diskurs in den Rang einer staatlich sanktionierten Tatsachenfeststellung. Für die Rede gilt, was Brigitte Seebacher-Brandt für Weizsäckers gesamte Präsidentschaft feststellte: "Er brachte es fertig, was fertigzubringen keinem vor ihm auch nur in den Sinn gekommen war: dem Zeitgeist vollkommenen Ausdruck zu verleihen, ihn zu repräsentieren." Darüber hinaus war die Rede der Startschuß für eine Entwicklung, die vom Historikerstreit über die Wehrmachtsausstellung bis zum Berliner Holocaustdenkmal als vorerst letzter Station führt.

Ende 1998 hat György Konrád, Präsident der Akademie der Künste Berlin und ungarischer Jude, den Sinn dieses Denkmals vehement in Frage gestellt. Er sprach bewegend über seine ermordeten Mitschüler, deren Andenken nichts zu tun habe mit der "blasierten Maßlosigkeit", dem "Zentanariusnarzismus, (der) Gedankenarmut, Redundanz - (der) Verschwendung von Ideen, Material und Raum", die sich hier manifestiere. Das Denkmal befriedige nur "das überdimensionierte Ego der Lobbyisten und das Ich des Künstlers".

Damit hat er die Frage nach den verborgenen Beweggründen und Leidenschaften derjenigen aufgeworfen, die in Deutschland zur Zeit die Medien, Politik- und Geisteselite konstituieren und die Deutung der Vergangenheit monopolisiert haben.

Im Fall von Lea Rosh, der Initiatorin des Denkmals, herrscht bereits Einigkeit. Selbst Zeitungen, die ihr im Prinzip wohlgesonnen sind, belächeln sie als "Musterdeutsche", "Gedenkdomina", "Oberjüdin Deutschlands" "Trauerarbeiterin der Nation", "Dampfwalze". Es herrscht das Empfinden vor, daß dieser Fall längst ein pathologischer ist. Seine Einzelheiten müssen erst noch geklärt werden.

Bei Jan-Philipp Reemtsma, dem Initiator der Wehrmachtsausstellung, liegt der Zusammenhang mit der Nazi-Vergangenheit seiner Familie auf der Hand. Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert N. Proctor, Verfasser des Buches "The Nazi War on Cancer", berichtet: "Ende der dreißiger Jahre kontrollierte Reemtsma 80 Prozent des Tabakmarkts in Deutschland, und die Firma war sehr nazifiziert." Der aktuelle Kampf des calvinistisch konfirmierten Reemtsma gegen die Wehrmacht wirkt wie der Versuch der "Kompensation seiner Scham darüber, was sich seine Familie zur Zeit des Dritten Reiches hat zuschulden kommen lassen" (Rüdiger Proske in der JF 45/99).

Noch klarer liegen die Dinge bei Hilde Schramm, der Tochter Albert Speers, die in den achtziger Jahren für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus saß. Als Vizepräsidentin des Hauses sorgte sie für Aufsehen, weil sie zum Ziel der deutschen Wiedervereinigung auf Distanz ging. Vermutlich hielt sie das für eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Die habilitierte Soziologin leitete bis 1999 in Brandenburg eine "Regionale Arbeitsstelle", die Lehrer unter anderem mit Material zum Thema "Rechtsextremismus" und "Ausländerfeindlichkeit" versorgt.

Bei ihr kann der Versuch, biographische und Familienkonflikte durch Externalisierung zu bewältigen, erst recht als erwiesen gelten. Die Speer-Biographin Gitta Sereny hat Schramms Seelennöte treffsicher beschrieben: Sie sei außerstande, "über Hitler und das Leben zu reden, das sie in ihrer Kindheit in seiner Nähe verbrachte. (...) Hilde kann die Tatsache nicht akzeptieren, daß es Zeiten gab, (...) in denen sie ihn - vielleicht - sogar mochte." Schramm behauptete, Hitler schon als Kind gehaßt zu haben. Nur gibt es Fotos, auf denen kein haßerfülltes, sondern ein durchaus seliges Hildchen die Hand von "Onkel Führer" hält ...

Schramms Beispiel widerlegt aber auch die Annahme, daß die "Bewältigungs-Exzesse automatisch in dem "Haß" wurzeln, den die Volkspädagogen "auf die Väter" hegen. Das Gegenteil kann genauso zutreffen. Hilde Schramm hatte während der 20jährigen Haft Albert Spers "unerschütterlich zu ihm" gestanden und sich vielfältig, etwa im britischen Außenministerium, um seine vorzeitige Freilassung bemüht. Die Spannung zwischen ihrer Liebe zum Vater und ihrem Wissen um das, was er unmittelbar zu verantworten hatte, muß sie innerlich zerrissen haben. Ihr Versuch, seine historische und moralische Belastung ein wenig zu erleichtern, indem sie seine Verbrechen kollektiviert und dem nationalen Kollektiv als Anlaß zur Buße verordnet, ist psychologisch verständlich, nur reduziert sich damit der hohe moralische Anspruch auf einen kruden Egoismus.

Allein bei Richard von Weizsäcker scheinen Moral und historische Einsicht ganz zu sich selbst zu kommen. Dementsprechend genießt er im In- und Ausland eine unangefochtene, fast kultische Verehrung.

Weizsäckers Erinnerungen sind Alte-Jungfer-Prosa

Im Februar 1999 räumte das FAZ-Feuilleton zweieinhalb Seiten frei, um unter dem Titel "Ein paar Versuche, in Deutschland spazieren zu gehen" einen Aufsatz nachzudrucken, den Bernard-Henri Levy für Le Monde verfaßt hatte. Levy hatte auch Weizsäcker besucht, in seinem Haus in Berlin-Dahlem, einem Villenviertel, "das unter Pastor Martin Niemöller als einzige protestantische Kirchengemeinde in Berlin dem Nazismus die Stirn bot". Auf daß Niemöllers Licht auf von Weizsäcker falle! Allerdings wohnten die Weizsäckers, als Niemöller im KZ einsaß, ganz woanders, aber sei's drum. Levy wollte lediglich den Altbundespräsidenten als "so etwas wie das Gewissen der Deutschen" herausstellen.

Es wohnt in "einem Herrschaftshaus, kein Zweifel", wie ja auch von Weizsäcker zweifelsfrei ein Herr ist, eine Mischung aus Ernst Jünger und Novalis (derlei behauptet Levy ganz unironisch.) Es war die hohe Zeit des Walser-BubisStreits, in dem Weizsäcker für Bubis Partei ergriffen hatte. Gegenüber dem Gast aus Frankreich verzichtete er auf jegliche Zurückhaltung. Man müsse "sich Walsers in dieser Debatte entledigen", denn: "Er ist weder auf der Höhe von Bubis noch auf der von ihm in Gang gesetzten Debatte. Schauen Sie, das hätte wirklich eine gute Debatte werden können. Aber nicht mit ihm, nicht mit diesem Typ, gewiß redlich, aber farblos und derart kleinbürgerlich ..." Und dann fügte er noch hinzu: "Warum nimmt er (Walser - D.N.) Hemingway nicht zum Vorbild, um bessere Bücher zu schreiben?"

Da hatte Walser gerade sein wunderbares Memoirenbuch "Ein springender Brunnen" veröffentlicht, das Gegenstück gewissermaßen zu Weizsäckers "Vier Zeiten". Der Vergleich hinkt natürlich, denn Weizsäckers Erinnerungen gehören zu jener penetranten Alte-Jungfer-Prosa, die der autoritäre deutsche Michel immer noch geneigt ist, für einen Abglanz des alten Europa zu halten.

Werfen wir dennoch einen Blick hinein. Ganz genau weiß er, wo die Familie, als sie 1927 erstmals nach Berlin zog, ihre Wohnung nahm: Ecke Fasanen-/Pariser Straße, bis heute eine passable Gegend. In der Nachbarschaft, fügt er hinzu, wohnten ein bekannter Pianist und Rudolf Breitscheidt, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Reichstag. Nur damit der Leser nicht vergißt, wie vornehm man immer schon war.

1938 kam Ribbentrops Angebot an seinen Vater, Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt zu werden. "Mein Vater ging mit sich in der Tiefe seines Gewissens zu Rate." Das pompöse Wortgeklingel paßt zu Jünger und Novalis wie Buttercreme zum sauren Hering, wir wollen dennoch versuchen, die "Tiefe des Gewissens" beim Wort zu nehmen: "Über den wahren Charakter der Nazis wußte mein Vater zu wenig, und von den unsäglichen Verbrechen, die kommen sollten, ahnte er so gut wie nichts."

"So gut wie nichts", heißt im Umkehrschluß: ein ganz klein wenig schon! Und das muß, angesichts dessen, was dann tatsächlich kam, doch immerhin eine ganze Menge gewesen sein? Aber so war es natürlich nicht gemeint! Der schlechte Weizsäcker-Stil verrät nur die unsaubere Erinnerungsarbeit und Gedankenführung!

Anders gesagt: Der Autor will seine Leser für dumm verkaufen, gibt sich aber, weil er sie verachtet, dabei zu wenig Mühe. Ernst von Weizsäckers "zu geringes Wissen" über den "wahren Charakter der Nazis" im Jahr 1938 fällt auf das "Gewissen der Deutschen" von heute zurück. Denn es handelte sich um einen überdurchschnittlich intelligenten Mann, der sich - seit 1933 als Gesandter in Bern - auf internationalem Parkett bewegte, dem die Weltpresse zur Verfügung stand, der wissen konnte, was gespielt wurde. Die unheimliche Wahrheit liegt anderswo, zum Beispiel in der unscheinbaren Notiz vom 8. Februar 1938, abgedruckt in den "Weizsäcker-Papieren": "Man soll sich durch fremde Radio- und Pressenachrichten nicht beeinflussen lassen." Zwei Tage zuvor hatte er Ribbentrops "jugendliche Beweglichkeit" gelobt.

Vielleicht war er der Meinung, daß, wo gehobelt wird, auch Späne fallen? Oder daß das Neue immer nur unter Schmerzen geboren wird? Gewiß wollte er, wie alle anderen auch, einfach nur Schlimmeres verhüten. Leider ist es genau das, was dem deutschen Spießer immer als falsche Ausflucht zur Last gelegt wird! Im März 1933 hatte er geschrieben: "Aber eine einfache Wahrheit ist doch, daß dieses Regime nicht umschmeißen darf. ( ... ) Man muß ihm alle Hilfe und Erfahrung angedeihen lassen und mit dafür sorgen, daß die jetzt einsetzende Etappe der neuen Revolution eine ernsthaft konstruktive wird." Man sieht, wer mit der "Tiefe des Gewissens" hausieren geht, will oft nur dessen Seichtheit verbergen.

Unwillkürlich wird die Verachtung plausibel, mit der damals Gottfried Benn die "Agnaten der alten Familien" bedachte: "Keiner fühlt sich verpflichtet durch irgendeine Tradition. Nicht einer erhebt sich, speit auf die Blattpflanzen, tritt die Kübel mit Palmen ein und erklärt, es ist unstatthaft zu behaupten, daß sich in diesen üblen völkischen Pöbeleien irgendeine dumpfe nationale Substanz etwa ans Licht ringt."

Ging es auch um Eitelkeiten, Prestige, Geld, um ein schönes Haus vielleicht? Apropos - wie hat man denn gewohnt so ab 1938, 1939 in Berlin? Kein Wort dazu in den "Vier Zeiten", nur einmal - aber da geht es schon um 1945 - heißt es lapidar: "Das Berliner Haus, in dem die Familie zuletzt gewohnt hatte, war den Bomben zum Opfer gefallen und abgebrannt."

Wir helfen nach: Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker zog im Juni 1939 aus seiner Berliner Mietwohnung in eine Dienstwohnung im Tiergartenviertel, in die Admiral-von-Schröder-Straße 34/36 (davor Kaiserin-Augusta-Str. 64/65, heute Köbis-Straße 34/36). Das Haus war ein 1923 fertiggestellter, freistehender, symmetrischer Bau, der an die klassizistische Tradition in Preußen erinnerte, und von einem großen Garten umgeben. Bis 1938 gehörte es dem jüdischen Bankier Hans Fürstenberg, dem Chef der Berliner Handelsgesellschaft, einer der größten deutschen Geschäftsbanken. Fürstenberg, ein bedeutender Büchersammler, hatte das Haus mit deckenhohen Regalen, Wandmalereien und antiker Ausstattung versehen. Von der Gestapo verfolgt, floh er ins Ausland. Im November 1938, dem Monat der Pogromnacht, mußte er das Haus "einschließlich Zubehör" an das Reich verkaufen ("Berliner Lebenswelten in den zwanziger Jahren", Hg. v. Bauhaus-Archiv Berlin 1996, S. 50 ff.).

Das eigene Versagen auf die Schultern anderer verteilt

Richard von Weizsäcker hat seinen Vater stets verteidigt, angefangen vom Wilhelmstraßen-Prozeß bis hin zu seinen Memoiren. Die Sohnesliebe mag seine Gedächtnislücken und Verdrängungen entschuldigen. Er hat aber wenig Recht zu behaupten, seine Rede vom 8. Mai 1985 reflektiere die "konkreten Erfahrungen (s)einer eigenen Generation" und sei auf die Überzeugung gestützt gewesen, "daß ich für uns alle zu sprechen hatte".

Nicht jede deutsche Familie hat eine derart prächtige Dienstwohnung aus jüdischem Besitz in Beschlag genommen wie die Weizsäckers, und in der Tat haben nicht viele Deutsche geahnt, daß Ernst von Weizsäcker im September und Oktober 1942 "den ungarischen Gesandten drängte, der 'Aussiedlung' der zur 'Panikmache' neigenden Juden nach Osten zuzustimmen" (Rolf Hochhuth 1963 im Nachwort zum "Stellvertreter").

Das Thema "Weizsäcker und die Juden" wäre ein eigenes Kapitel. Hier sei nur festgestellt, daß Richard von Weizsäcker konkretes Versagen, das mit dem Namen seiner Familie verbunden ist, bis heute anonymisiert und mit großer Geste auf die Schultern namenloser Kleinbürger verteilt. "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", lautet ein weiterer Erbauungssatz in seinen Memoiren. Wir steigen zwei Etagen tiefer und erwidern ganz kleinbürgerlich: Jeder kehre erstmal vor der eigenen Haustür!


 
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