© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Aufklärerischer Gestus
von Doris Neujahr

Gerhard Schröders Weigerung, die Diskussion mit Martin Walser zum Thema "Nation. Patriotismus. Demokratische Kultur" abzusagen, war wohlkalkuliert. Denn keineswegs nur "rechtsnationale Wähler", wie Kritiker behaupteten, sondern eine qualifizierte Mehrheit in Deutschland teilt die Überzeugungen, für die Walser seit seiner Frankfurter Friedenspreisrede 1998 symbolhaft steht. Dieser Mehrheit wollte der SPD-Kanzler sich als Sachwalter eines aufgeklärten Patriotismus empfehlen. Die Diskussion am 8. Mai im Berliner Willy-Brandt-Haus entsprach seinem überzeugungsfreien Pragmatismus, der sich von Umfrage zu Umfrage hangelt.

Martin Walser bewies, daß sein "Geschichtsgefühl", auf das er sich bei dieser Gelegenheit erneut berief, in Wahrheit seine vertiefte Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge ist. Mit der Aussage, der Versailler Vertrag habe den Aufstieg Hitlers enorm begünstigt, benannte er eine einfache, heute weithin verdrängte Tatsache. Walser setzt der Zerstörung historischer Bezüge, die darauf hinausläuft, die Deutschen als Ausdruck des "absoluten Bösen" zu mystifizieren, einen aus der Mode geratenen, aufklärerischen Gestus entgegen. Wer das bekrittelt, will noch 57 Jahre nach Kriegsende Deutschland als souveränen politischen Akteur verhindern.

Wie wenig dieses Land bis heute normal ist, zeigt sich daran, daß nur die SPD sich eine derartige Veranstaltung zutraut. Die bürgerlichen Parteien ducken sich bei den von Walser angesprochenen Themen feige, sprach- und gedankenlos weg.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen