© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Kolumne
Morsches Klima
Hans-Helmuth Knütter

In Deutschland herrsche eine stickige, eine bleierne Atmosphäre - so redeten die Leftisten über die Adenauerzeit, die den meisten Zeitgenossen ganz anders, positiv, als eine Zeit des Aufbaues und der Erneuerung in Erinnerung ist.

Heute aber herrscht hierzulande ein anderes politisches Klima: Eine grauenvolle Mischung von Mißtrauen, Neid und Heuchelei. Die freieste Ordnung der deutschen Geschichte? Von wegen. Freiheit? Jawohl. Jeder hat die Freiheit, der regierenden Oligarchie nach dem Munde zu reden. Wer es nicht tut, findet sich als Verfassungsfeind im Verfassungsschutzbericht wieder. Wirklich erstaunlich, mit welcher Schamlosigkeit die Amtsinhaber Spitzelwesen und Denunziantentum als vorbildlich propagieren. Innenminister Schily rühmt ohne Hemmung, das Anzeigenverhalten der Bevölkerung im Kampf gegen Rechts habe sich "verbessert". Denunziantentum als Tugend.

Aber die Bürger haben es ja so gewollt, sie haben diese Leute gewählt. Eine indolente, gleichgültige Bevölkerung nimmt jede Zumutung maulend, aber untertanenhaft hin. Warum? Weil Bequemlichkeit und Wohlstand gesichert scheinen - noch! Sie sind die einzigen Loyalitätsfaktoren, auf denen diese Ordnung beruht. Dem historisch Gebildeten - wozu die Mehrzahl der Deutschen nicht gehört - fällt eine historische Parallele ein: Als die mittelalterliche Kirche vor fast 1000 Jahren erstarrte, erstrebte die Reformbewegung von Cluny eine geistige und geistliche Reinigung, fort vom selbstgefälligen Pfründnerwesen. Auch heute ist die moralische Erneuerung des bestehenden Systems nötig. Sonst wird es dem Realsozialismus in den Orkus folgen. Eine seltsame, gespaltene Stimmung herrscht im Lande: Einerseits Hysterie bei der Funktionärsoligarchie in Politik und Medien. Die Bevölkerung aber ist passiv, verweigert sich bei Wahlen und zieht sich in private Nischen zurück. Dumpf spüren die Menschen: Noch geht es uns gut, aber so geht es nicht weiter.

Wir leben in wendereicher Zeit, und die nächste Wende kommt bestimmt. Noch kennen wir den Zeitpunkt nicht, und wir wissen nicht, ob es gelingt, den Wandel zu beherrschen. Ralf Dahrendorf erinnerte kürzlich an einen Ausspruch des britischen Sozialwissenschaftlers Michael Oakeshott, der vor einem halben Jahrhundert die Lage mit den Worten bestimmte: "Politik ist wie das Segeln auf einem grenzen- und bodenlosen Meer. Es gibt weder einen Hafen zum Unterschlupf noch ein Meeresboden für den Anker. Weder Ausgangspunkt noch bestimmtes Ziel. Wir können nur eines tun: Nämlich das Schiff auf hoher See flott zu halten."

 

Prof. Dr. Hans-Helmuth Knütter lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bonn.


 
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