© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Straßburger Besserwisser
Estland: Der Rassismusbericht der EU zeichnet ein völlig falsches Bild der Baltenrepublik
Carl Gustaf Ströhm

Unter den europäischen Institutionen, die neuerdings auf Kosten der Steuerzahler wie Pilze aus dem Boden schießen, nimmt die "Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz" (ECRI) einen besonderen Platz ein. Vergleichbar ist sie allenfalls mit der "Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" der EU (EUMC) in Wien. Von beiden Institutionen sagen Europa-Politiker - hinter vorgehaltener Hand - sie seien im Grunde "überflüssig wie ein Kropf" und dienten der Selbstbeschäftigung ebenso ehrgeiziger wie ahnungsloser Weltverbesserer. Der Unterschied ist nur, daß die ECRI dem Europarat untersteht - einer im Vergleich zur EU jedoch weit bedeutungsloseren Organisation.

Nun hat sich die ECRI im Rahmen ihrer Länderberichte zum zweiten Mal über Estland geäußert. Nach einem dreitägigen "Kontaktbesuch" in der nördlichsten der drei baltischen Republiken im April 2001 - im Grunde genügt ein so kurzer Aufenthalt nicht einmal, um auch nur einen flüchtigen Eindruck mitzunehmen - legt die ECRI einen langatmigen Bericht vor, in dem die Esten nichts zu lachen haben: Ihnen wird vorgeworfen, die russische Minderheit im Lande zu diskriminieren, die heute etwa 30 Prozent und weit über 400.000 Personen umfaßt (Gesamtbevölkerung 1,5 Millionen - davon 963.000 Esten).

Die Anti-Rassismus-Kommission des Europarates ist der Ansicht, zahlreiche Angehörige der "russischsprachigen" Volksgruppen hätten weder die estnische Staatsangehörigkeit erlangen können, noch hätten sie Zugang zu den "Strukturen des Landes" und zum "demokratischen Prozeß". Es wird ferner behauptet, den Russen werde immer noch das Erlernen der estnischen Sprache erschwert - die sich als Mitglied der finnougrischen Sprachfamilie jedoch wie auch Finnisch oder Ungarisch grundlegend vom Russischen unterscheidet. Die Sprachprüfungen, welche die Russen ablegen müßten, seien "unnötig schwierig" und "entfernt vom wirklichen Leben".

Die hochbezahlten Straßburger "Blitzbesucher" präsentieren eine ganze Reihe recht seltsamer Vorschläge: Um etwa den Nicht-Esten den Zugang zum Polizeidienst zu erleichtern, soll die Rekrutierung der Polizeibeamten in Zukunft nicht durch die Polizei selber und das Innenministerium, sondern durch eine von der Regierung unabhängige Kommission erfolgen. Damit würde Estland allerdings in eine wirkliche einmalige Lage geraten.

Totalitärer Eingriff in die Pressefreiheit

Ähnlich dilettantisch argumentiert die ECRI in der Frage der Medien. Sie beanstandet, daß die in Estland produzierten Medien über ein und dasselbe Ereignis in vollkommen verschiedener Weise berichten: Als ob so etwas nicht auch in westlichen Medien gleicher Sprache und Nationalität täglich vorkommt!

Um nun die Russisch sprechenden und die Estnisch sprechenden Medien-Konsumenten und Leser zusammenzubringen, schlagen die Weisen des Europarates vor, in der gedruckten Presse "die gleichen Artikel in beiden Sprachen abzudrucken". Daß dies ein geradezu totalitärer Eingriff in die Pressefreiheit und eine "Gleichschaltung" wäre, berührt die Europäer offenbar nicht. Um im estnischen Fernsehen eine Diskriminierung russischer Zuschauer zu vermeiden, wird allen Ernstes vorgeschlagen, das ganze estnische TV mit russischen Untertiteln zu versehen. Was die ECRI-Helden vergessen, ist aber die Tatsache, daß in Estland - wie in vielen anderen kleinen Ländern - zum Beispiel eine Synchronisierung der auch dort viel gespielten Hollywood-Filme und US-Seifenopern nicht möglich ist.

Statt dessen gibt es in diesen Filmen bereits estnische Untertitel. Fügte man dann noch einen russischen Untertitel hinzu, wäre das halbe Fernsehbild mit Buchstaben verstellt!

Mit der Laterne suchen die Europarats-Anti-Rassismus-Wächter nach inkriminierenden Tatsachen. Die Kommission räumt ein, daß "schwere und gewalttätige Manifestationen von Intoleranz und Rassismus im heutigen Estland keine häufige Erscheinung sind." Aber diese an sich positive Bewertung wird sofort ins Gegenteil verkehrt, denn, so heißt es weiter, "ECRI ist besorgt, daß es immer noch einen Mangel an Gefühl für Estland als eine multikulturelle Gesellschaft" gibt. Hier läßt man die Katze aus dem Sack: Die Esten sollen auf ihren Nationalstaat und damit auf ihre Identität verzichten und sich in einem Multikulti-Schmelztiegel einrichten. Diese Forderung ähnelt auf fatale Weise der den Esten wohlbekannten Breschnew-Formel von der "sowjetischen Nation", in der schließlich alle nichtrussischen Völker aufzugehen hätten. Mit der Multikulti-Formel haben sich die ECRI-Leute selbst decouvriert.

Es geht ihnen gar nicht darum, die Selbständigkeit und Identität eines von der Geschichte schwer heimgesuchten kleinen Volkes zu stärken; sie betrachten Estland vielmehr als soziales Exzerzierfeld für im Grunde abwegige Theorien, wonach alle gleich sind und sich folglich alle mit allen vermischen sollen.

Daß von einer solchen Politik die kleinen Nationen Europas (nicht nur die Esten) weitaus stärker in ihrer Existenz bedroht werden als die großen, interessiert die Straßburger Bürokraten offenbar nicht. Manchmal überschreitet der ECRI-Bericht die Grenze des Grotesken, beispielsweise wenn zuerst penibel angeführt wird, Artikel 72 des Estnischen Strafgesetzbuches verbiete das "Anstacheln nationalen, russischen, religiösen oder politischen Hasses".

Aber im nächsten Absatz wird gerügt, daß unter diesem Artikel bisher nur drei Personen in Estland verurteilt wurden. Die estnischen Behörden werden aufgefordert, eine Untersuchung darüber anzustellen, warum es so wenige "Fälle" gab. Will man die Esten zu antirassistischen Säuberungen im Sowjetstil animieren? Und was heißt hier überhaupt Antirassismus, wenn Esten und Russen zur gleichen - weißen -"Rasse" gehören? Was die ECRI schließlich nicht begreifen will: Die Esten waren in ihrem Lande jahrzehntelang einer Sowjetisierung und Russifizierung ausgesetzt, welche die Identität dieser kleinen Nation auszulöschen drohte.

Ein beträchtlicher Teil der heute in Estland lebenden Russen war gewollt oder ungewollt Träger dieses für Estland tödlichen Prozesses. Viele dieser Menschen kamen 1940/41 und 1945-89 auf Grund Moskauer Befehle ins Land - kein Este hatte darüber zu entscheiden. Bis heute ist die Loyalität zumindest eines Teils dieser Zuwanderer aus Zeiten der Sowjetunion zweifelhaft.

Estland in einen gemischten estnisch-russischen Staat zu verwandeln, bedeutet, der Sowjetunion nachträglich zum Siege zu verhelfen - post mortem sozusagen. Ist es das, was ECRI möchte?


 
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