© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
CD: Liedermacher
Wortschöpfer
Holger Stürenburg

Seit fast 20 Jahren kennen besonders die Hamburger Michy Reincke als Liederschreiber und Entertainer. Der Sänger und Gitarrist steht regelmäßig auf der Bühne des "Schmidt's Tivoli" auf der Reeperbahn, und das Theater ist regelmäßig ausverkauft. Ende 2000 erschien ein Best-of-Album seiner früheren Band Felix de Luxe und soeben kam Michy Reinckes aktuelle Soloscheibe "Seeler" (RinTinTin/Edel) auf den Markt.

Nicht nur dem gleichnamigen Ehrenspielführer der deutschen Fußballnationalmannschaft wollte Reincke mit "Seeler" ein Denkmal setzten: "Ein Seeler ist derjenige, der 'Seele' zu den Menschen bringt", erläutert der Wortschöpfer. Die Seele, so Reincke, müsse "als transzendales Element in unserer mechanischen und kaufmännisch ausgerichteten Welt ihren Platz haben". Dies klingt zwar kopflastig, kommt aber bei Reinckes Liedern ohne Schnörkel zum Tragen: Ein Dutzend neue Songs gibt es auf "Seeler". Lieder, die mit einfachen Worten positive, romantische Gefühle, aber auch absurde Situationen und abgeklärte Reaktionen darauf beschreiben. So huldigt der überzeugte Hanseat verliebt der "Reeperbahn" in frechem Popgewand, behauptet zackig und eingängig "Liebe hält die ganze Welt in Atem" und verbeugt sich ironisch vor einem Möchtegern-Popsternchen: "Toll, toll, toll". Das ebenso ironische "Move't Eure Körper für mich" zeigt Reinckes Blick auf die Attitüden der Hip-Hop-Gemeinschaft. Immer wieder gelingt es ihm, auf der Basis perlender Pianos und einschmeichelnder Melodien gefühlvolle Lieder wie "Zusammen durch die Nacht" oder "Möchtest Du tanzen?" zu schreiben. Gottlob verzichtet Michy Reincke zumeist auf den Einsatz eines Schlagzeugcomputers oder Synthesizers. Statt dessen schrammeln die (akustischen) Gitarren, klimpert das Piano und ertönen natürliche Schlagzeugrhythmen. So stehen auch die zwölf neuen Songs für romantische Kühle gemischt mit Melancholie.

Was Michy Reincke für die Hansestadt ist, bedeutet Manfred Maurenbrecher für Berlin. Der promovierte Germanist ist seit 20 Jahren im Musikgeschäft aktiv. Er begann Ende der 1970er mit kritisch-augenzwinkernden Liedermacherepen, tauchte später zusammen mit Spliff-Musikern in die Welt des deutschen Pop ein. Seit einigen Jahren tritt der Liederschreiber nicht nur in Berlin, sondern auch bundesweit solo am Klavier auf und hat sich im Laufe der Jahre eine treue Fangemeinde erspielt. In diesen Tagen erscheint "Gegengift" (LAMU Records); ein reines Pianoalbum, eingespielt von Maurenbrecher auf dem Flügel, den einst Ernst Busch bearbeitete. Wie ein deutscher Tom Waits krächzt und kämpft sich der 52jährige durch dunkle Kindheitserinnerungen ("Mit dem Roller"), mehrschichtige Liebeslieder ("Unterwegs") und analytische Betrachtungen des Zeitgeists ("Sie ist berühmt"). Der ewige Verlierer erhält mit "Gib nicht gleich auf" eine Hymne verabreicht; Kunze-mäßig absurd wird es in "Vegetarische Küsse". Obgleich Maurenbrecher keine plakativen Polithymnen mehr schreibt, wie zu seinen kommerziellen Hochzeiten in den Achtzigern (oder auch auf seinem hervorragenden 93er-Rockalbum "Kakerlaken"), so ist doch nahezu jedes seiner neuen Lieder hochpolitisch und im wahrsten Sinne des Wortes ein "Gegengift" gegen Oberflächlichkeit. Doch bei weitem nicht nur ironisch oder kabarettistisch kommen Maurenbrechers Texte rüber. Er zeigt sich genauso oft als - vielleicht gescheiterter - Romantiker, der in der Lage ist, Gefühle unpathetisch, mal sanft, mal durchaus aggressiv und fordernd auszudrücken

Es gibt kaum (noch) deutsche Singer/Songwriter, die so eindringliche Texte über Geliebt- und Verlassenwerden schreiben wie der kauzige Pianospieler aus Berlin. Auch wenn Maurenbrechers Gefühlsausbrüche mehr dem Kopf entspringen, als - wie etwa bei Michy Reincke - dem Bauch.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen