© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Auf dem Damenklo mit Stuckrad-Barre
Das Jahrbuch der Popkultur 2002/2003 ist erschienen
Wolfgang Scheidt

Charlotte Roche kommt bei Robbie Williams ins Schwitzen, Ben Becker läßt schon mal die Unterhosen runter und Jasmin Tabatabai verkehrt regelmäßig mit dem Fußballprofi Lars Ricken - zumindest per SMS. Wollen wir das wirklich wissen?

Popkultur hat Hochkonjunktur, dabei haftet ihr immer noch das Stigma des Unschönen, Unwahren und Unguten an - zu Unrecht. In "Popkultur 2002/03" feiert sich die Entertainment-Szene selbst, Götz Alsmann, Fettes Brot, Barbara Schöneberger & Co. liefern den Prosa-Sound populärer Kunst made in Germany. Im Zweifel ist alles Kult: Tommy Gottschalk erhält für "Wetten, dass...?" den Medienpreis für Sprachkultur, unser Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin fordert eine Art Artenschutz für Filme wie "Der Schuh des Manitu" und Viva-Maskottchen Dieter Gorny hört Popmusik sogar in der Horizontalen.

Trash, Talks und Trends bietet das von Dieter Gorny und Jürgen Stark herausgegebene "Jahrbuch für Musikkultur, Musikmedien und Musikindustrie" auf 368 Hochglanzseiten - überblättert man überflüssige bis nervende Firmenportraits, Anzeigen und PR-Interviews, bleibt amüsanter bis lohnender Lese- und Show-Stoff. Im Essay "Jugend ohne Politik?" spekuliert Jan Turowski, warum Väter und Töchter heute gemeinsam Snowboarden gehen und Viva, nach dem Einsturz des World Trade Centers, lieber Standbilder zeigte, anstatt die "Generation Ally" pop-politisch aufzuklären. Jugendkultur definiert sich durch Megastars und Markenkult, nach dem Großen Latinum fragt allenfalls noch Günther Jauch bei "Wer wird Millionär?" Turowski plädiert für Nachrichten auf MTV und Viva, um die Pisa-Studie oder den Erfurter Amoklauf Jugendlichen in ihrer Sprache und ihrer Ästhetik näher zu bringen.

Derweil offenbart uns Günter Wallraff, daß Strawinsky den perfekten Background für seine ersten "Quickies" bot und er dank Bert Brechts "Legende vom toten Soldaten" den Grundwehrdienst verweigerte - für ihn bedeutet Musik Ekstase und Energie, nicht Koks und Ecstasy. Wie im Rausch diffamiert Ben Becker Popliteraten à la Sibylle Berg und Nick Hornby als seichte Schickeria-Spießer, während "Anarcho" Becker Guido Westerwelle beim TV-Talk "Beckmann" ein Stück Hasch kredenzt und sich eine US-Flagge mit 52 Hakenkreuzen nähen läßt - für ihn ist das State of Popart. Noch blonder ist nur Barbara Schöneberger: Sie träumt nicht von 99 Luftballons, sondern von einer eigenen Late-Night-Show im Stile Harald Schmidts - bis dahin lobt sie "Blondes Gift" als IQ-TV "mit dem Blub". Und Bundestagspräsident Thierse glaubt gar, mit Big-Band-Sound, Scratchen und HipHop, statt verstaubter Blockflöten, Schüler für den aussterbenden Musikunterricht begeistern zu können.

Klo-Kult betreibt Yvonne Klehr in ihrer lesenswerten Satire "Auf Damentoilette mit Stuckrad-Barre, im Lafayette mit Beigbeder und an der Döner-Bude mit Kracht": Warum nur gehen Girlies so gerne gemeinsam Pinkeln? fragt sie und läßt sich lieber von Benjamin von Stuckrad-Barre inspirieren: "Ich mag Männer, habe weder Angst vor der Liebe noch vor großen Schwänzen. Aber alles zu seiner Zeit. Der Richtige am richtigen Ort. Das Abenteuer wohldosiert, bitte!" Oder um mit Stuckrad-Barre im Milieu zu bleiben: "Ob Menschen auf dem Klo im Stehen, Sitzen oder Liegen tun, was sie da zu tun haben, ist ihm egal, Hauptsache sie hinterlassen diesen Bereich, in dem es überhaupt keine Kompromisse gibt, so, wie sie ihn vorgefunden haben." Pop hin, Literatur her, da würde ihm jede Klofrau sofort zustimmen. Und Ben Becker auch!

Dieter Gorny / Jürgen Stark (Hrsg.): Popkultur 2002/02. Das Jahrbuch für Musikkultur, Musikmedien & Musikindustrie. Rowohlt, Reinbek, 368 S., 26 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen