© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Lernerfolge
Karl Heinzen

Die Entschlossenheit, welche die USA in ihrem Bemühen an den Tag legen, die Teilung der Welt in nur sich selbst verantwortliche Machtzentren von mehr oder weniger Relevanz zu überwinden, kommt auch den Russen zugute. Zunächst dürfen sie sich von möglichen Zweifeln an den vergangenen Grundlinien ihrer Politik entlastet fühlen. Das Bild, das sie sich einst von der inneren Dynamik des kapitalistischen Systems im allgemeinen und den vitalen Interessen ihres großen Gegenspielers im Ost-West-Konflikt im besonderen machten, war gar nicht schlecht getroffen. Der Sozialismus konnte nur durch eine starke militärische Macht und den glaubwürdigen Willen, diese notfalls zum Einsatz zu bringen, geschützt werden. Als der Wille erlahmte, war es tatsächlich aus. So ärgerlich dies für viele Russen im Rückblick sein mag: Sie können sich damit trösten, daß das Motiv für ihre jahrzehntelange Kraftanstrengung keine Schimäre war.

Der Machtanspruch der USA ist so grenzenlos und die Möglichkeiten, ihm Anerkennung zu verschaffen, sind so vielfältig, daß niemand mit ihnen von gleich zu gleich kooperieren kann. Rußland hat sich elegant und einsichtig in eine neue Rolle gefunden, die dieser Realität gerecht wird. Die Ausdehnung der Nato auf ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes wurde verkraftet, sie stellte letztlich sogar unter Beweis, daß man die einstigen Verbündeten im Sinne der Breschnew-Doktrin zurecht als unsichere Kantonisten angesehen hat. Die Stationierung von US-Truppen in neuen asiatischen Despotien, die vormals im Rahmen der Sowjetunion befriedet werden mußten, bestätigt das russische Erfahrungswissen, daß in dieser Region kein Machtvakuum entstehen darf, wenn man ihre Ressourcen in den Welthandel einbeziehen will. Die nächste Gelegenheit für Rußland, die eigenen Lernerfolge der Weltöffentlichkeit vorzuführen, steht unmittelbar bevor. Auf dem nächsten NATO-Gipfel in Prag wird das Bündnis weitere Staaten offiziell zum Beitritt einladen. Mit der Aufnahme der baltischen Republiken sollte es schon bald darauf erstmals auf einst sowjetisches Gebiet vorrücken können.

Lange Zeit hat Rußland so getan, als dürfte die Nato nicht so weit gehen, wenn sie keine Konfrontation riskieren wolle. Nun, da dieser Fall dennoch eingetreten ist, wird man eine andere Grenze für die Einkreisungspolitik definieren müssen, die nicht ohne Gefahr überschritten werden darf. Zumindest eine Gesichtswahrung ist nicht schwer herbeizureden. Mit der Aufnahme von Staaten wie Bulgarien, Rumänien und in der nächsten Runde vielleicht sogar Albanien und Mazedonien verliert die Nato zunehmend ihren Charakter einer militärischen Struktur. Mit 26 oder noch mehr Mitgliedern läßt sich kein Krieg organisieren, nicht einmal einer gegen Rußland. Es läßt sich jedoch darüber beraten, wie der Frieden sicherer zu gestalten ist. Die Nato tritt mit der OSZE in Wettbewerb: Hier wie dort wird aber niemand auf die Idee kommen, Rußland auszugrenzen.


 
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