© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
Pankraz,
Takeo Doi und der Samurai im Postamt

Im Fernen Osten schlägt die Magie doch immer wieder durch. In der ehrwürdigen japanischen Kaiserstadt Kyoto drang jetzt ein Mann in ein hochmodernes, gegen Überfälle gut gesichertes Postamt ein und forderte Geld. Ausgerüstet war er nur mit einem alten Samurai-Speer, den er drohend auf den Kassierer richtete. Dazu schrie er, er habe hier eine Wunderwaffe, gegen die kein Kraut gewachsen sei, den Lieblingsspeer des legendären Ritters Sowieso aus dem dreizehnten Jahrhundert, und sie sollten sofort den Tresor öffnen und das Geld hergeben.

Ebenfalls in diesen Tagen wurde in China ein Apotheker entlarvt, der jahrelang das Potenzmittel Viagra feilgeboten hatte, nur war das Viagra, das er verkaufte, gar kein Viagra, es war eine Melange aus Speisestärke und Zitronensäure, dem pro Packung nur winzigste Dosen echten Viagras beigefügt waren, die nach Auskunft der Gelehrten nicht die geringste Wirkung haben konnten. Das Pseudo-Viagra wirkte offenbar trotzdem, die Kunden waren zufrieden, nur ein läppischer Zufall ließ den Schwindel platzen.

Sowohl der geldgierige Speerträger als auch die zufriedenen Stärkekunden bestätigten wieder einmal, was der japanische Kulturhistoriker Takeo Doi in seinem interessanten, auch auf Englisch erschienenen Buch "Anatomy of Dependence" (New York 1993) ganz allgemein als eine "Schwäche der spezifisch asiatischen Mentalität" beklagt hat. "Wir Asiaten haben", schreibt Doi, "nie ein praktisch-handliches Verhältnis zum Begriff der Kausalität herstellen können; das behindert uns sehr bei der Bewältigung der westlichen Herausforderung, die doch so notwendig ist."

Doi setzt sich mit den vier von Aristoteles eingeführten Verursachungsarten auseinander: der Form-, der Material-, der Wirk- und der Zweckursache, und er meint, daß der Asiate von Haus aus immer nur auf die Form- und die Materialursache blicke, die Wirk- und die Zweckursache jedoch gern übersehe, d.h. er setzt die in der Materie als Möglichkeit, als "Entelechie", enthaltene Form immer schon voraus. Oder anders ausgedrückt: Der Asiate denkt bei Wirkprozessen grundsätzlich von der Zukunft her in die Gegenwart und Vergangenheit zurück, statt umgekehrt, wie es der logische Europäer angeblich tut, von der Vergangenheit und der Gegenwart in die Zukunft vorauszudenken.

Wenn zum Beispiel ein Deich bricht, so immer noch Doi, denkt der Europäer vorrangig an eventuelle Konstruktionsmängel, die als Wirkursache die Katastrophe zur logischen Folge gehabt haben. Der Asiate hingegen sieht die Katastrophe selbst als Ursache der Angelegenheit, nämlich als das Sichzeigen des "Dämons", der über dem Deich gewaltet hat.

Ähnlich der Taxifahrer in Djakarta, der auf eine gefährliche Kreuzung zurast und dabei nicht auf die Bremse tritt, sondern die Hupe betätigt. Er geht davon aus, daß die früher dort stattgefundenen Unfälle nicht durch falsche Fahrweise, sondern durch die Bosheit der dort lagernden Entelechie bewirkt werden, eines Dämons, der möglicherweise durch das Hupen besänftigt, eingeschüchtert oder sogar vertrieben werden könne.

Bedenkenswerte Standpunkte vielleicht, aber die kalt zu kalkulierenden und mathematisch auszurechnenden Wirk- und Zweckursachen bleiben draußen. Und das, sagte Takeo Doi, hat uns gegenüber den Europäern in Verzug gebracht.

Zitat: "In vielen unserer Unterhaltungsfilme werden die materiellen Naturgesetze einfach außer Kraft gesetzt, indem die Helden beim Schwertkampf durch die Luft wirbeln, mühelos rückwärts auf Hausdächer schnellen und von dort sogleich wieder wirbelnd und todbringend ins Geschehen zurücktauchen. Auch der Yogi, der jahrelang in seiner Höhle meditierte, oder der Samurai, der sein Schwert nicht führt, sondern selbst zum Schwert geworden ist, vollbringt Wunderdinge. Mächtig sein, heißt in Asien - wenigstens im Film - immer noch, 'wirken, ohne zu tun'".

Als "typisch asiatisch", vor allem typisch konfutsianisch, also chinesisch, koreanisch, japanisch, empfindet Takeo Doi auch die angestrengt "symbolische" Kommunikation. Noch heute, konstatiert er, gerade heute wieder wird unser (id est: der Konfutsianer) Alltag von der Rücksicht auf die Symbole diktiert; die Zeitungen zitieren sie endlos, die Kreuzworträtsel fragen nach ihnen, in den Glücksrad-shows des Fernsehens werden sie dauernd angewählt, und es werden Geldprämien mit ihnen verbunden.

Da sind die fünf "heiligen Tiere": Drache, Einhorn, Schildkröte, Phönix und Kranich, da sind die fünf "giftigen Tiere": Spinne, Eidechse, Tausendfüßler, Schlange und Kröte. Da sind die über fünfhundert Lebens-, bzw. Vorlebens-Stationen Buddhas und seine tausend Namen, da sind die hochsymbolischen Rituale, das Ausziehen der Schuhe beim Betreten der Tempel, aber auch der ganz gewöhnlichen Wohnungen, die symbolische Anzahl der am Tag zu vollziehenden Gebete, das Ausrollen des Gebetsteppichs, die nach Mekka gerichteten Gesichter usw.

Symbole statt mathematische Formeln, Hupen statt Bremsen, Wirken, ohne zu tun - das ist das Bild, das ein so kluger Beobachter wie Takeo Doi vom modernen Asien zeichnet. Sein bevorzugtes Beispiel ist die riesige Film- und Fernsehindustrie, wo ja tatsächlich die Karate- und Schwertkämpfer mühelos wie Tennisbälle durch die Luft wirbeln und alle materiellen Kräfte der puren Einbildung und dem bloßen Willen gehorchen. Aber wie sehr kann man den Hongkong- und Bombaystudios trauen? Wie viel hat der asiatische Film mit der asiatischen Wirklichkeit zu tun?

Der Posträuber mit dem Samurai-Speer wurde von den Bankangestellten überwältigt und der Polizei ausgeliefert. Der Apotheker mit dem falschen Viagra wurde verhaftet und ist mittlerweise zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch in Asien wachsen die Dämonen allem Anschein nach nicht mehr in den Himmel.


 
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