© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
"Ganz große Gaunerei"
Der Schriftsteller und Satiriker Eckhard Henscheid über Martin Walser, Marcel Reich-Ranicki und Jürgen W. Möllemann
Moritz Schwarz

Herr Henscheid, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat vergangenerWoche den Vorabdruck des neuen Buches von Martin Walser, "Tod eines Kritikers", verweigert. Frank Schirrmacher hat dies mit dem Urteil begründet, das Buch sei ein "Dokument des Hasses", und Walser sogar "antisemitischer Klischees" bezichtigt. Seitdem diskutieren alle ein Buch, das noch kaum einer gelesen hat. Ein Paradebeispiel für die typischen Mediendebatten, die in unserem Zeitalter die ernsthafte Auseinandersetzung ersetzen?

Henscheid: Angesichts der Theorien, die inzwischen über diesen Vorgang umhergeistern, ist die Frage berechtigt. Schließlich wird vermutet, es könnte sich tatsächlich sowohl von Seiten Martin Walsers, als auch von Seiten Frank Schirrmachers um "Hype", um ein abgekartetes Spiel handeln. In der Hoffnung, mittels des Skandals die Medien zu dem nun von ihnen gezeigten Verhalten zu reizen.

Also Entertainment statt Kulturdebatte?

Henscheid: Es ist schon denkbar, daß nicht nur Schirrmacher das Skandal-Potential für seine höchst eigenen journalistischen Zwecke instrumentalisiert, sondern auch Martin Walser im Einvernehmen mit seinem Verlag vorzeitig Aufmerksamkeit auf sein Buch lenken will. Zwar kenne ich Walser bislang nicht in der Rolle des raffinierten Medienmanipulators, aber der Mann kann ja dazugelernt haben.

Was könnte der Grund sein?

Henscheid: Eitelkeit spielt bei Martin Walser durchaus eine Rolle, zumal im Alter - Walser ist 75 Jahre alt - Eitelkeit und Rechthaberei bekanntlich noch zunehmen. Andererseits beschwört Walser - und das muß man ihm zunächst einmal glauben -, er sei von den Reaktionen völlig überrascht.

Oder ist es die Lust an der Provokation?

Henscheid: Walser beharrt darauf, es sei ihm nur um einen guten Roman gegangen, der sich einzig mit der Macht des Kritikers, speziell des Kritikers im TV-Zeitalter auseinandersetzt. Auch das muß man ihm zunächst glauben, aber seine Beteuerungen klingen doch etwas sehr unschuldig.

Angeblich ist die gekonnte Provokation die Pflicht des Schriftstellers. Wenn auch wohl unfreiwillig, so hat Walser offenbar erfolgreich provoziert. Warum jetzt die Unkenrufe?

Henscheid: Schirrmacher behauptet, und in gewisser Weise muß er es wissen, denn er hat bekanntlich bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Walser 1998 die Laudatio in der Frankfurter Paulskirche gehalten, zwischen der damaligen Rede und "Tod eines Kritikers" gäbe es einen Konnex. Er spricht von einem "fatalen Weg", der damals begann und in seine heutige Position münde. Walser habe das Thema mit einer gewissen Lust mutwillig auf die Spitze getrieben. Ich befürchte, der Streit darüber wird auch nach Erscheinen des Buches andauern, denn wie sollte sich diese Unterstellung je widerlegen bzw. je endgültig beweisen lassen?

Schirrmacher hat Walser mit großer Geste vor der Öffentlichkeit "Antisemitismus" unterstellt, ohne daß die Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, das Buch zu lesen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Auch wenn Suhrkamp nun überlegt, die Veröffentlichung des Titels vorzuziehen, so hat Walser im Moment keine Chance, den Vorwurf zu entkräften.

Henscheid: Es zeugt in der Tat zumindest von einer gewissen Stillosigkeit, einen Mann, mit dem man seit Jahrzehnten in fast symbiotischer Weise verbunden war, so auflaufen zu lassen. Wenn man die Begründungen, die Schirrmacher für sein Verhalten vorbringt, aufmerksam liest, dann merkt man, daß sie nicht recht "hinreichen". Ich halte sie für Schutzbehauptungen, die seine eigentliche Motivation verdecken soll, Herold zu sein, für das, was er für gesellschaftlich notwendige Aufklärung hält - eventuell auch nur um eines Knüllers wegen.

Die Affäre platzt - zufällig? - in den Antisemitismus-Streit um Jürgen Möllemann hinein, der die Luft schon sehr "bleihaltig" gemacht hat. Steht Walser jetzt allein?

Henscheid: Man darf nicht vergessen, daß Walser, neben Günter Grass, immerhin der deutsche Schriftsteller ist, der das Privileg genießt, sich jederzeit ganz nach Belieben jeglicher Medien zu bedienen. Und er verteidigt sich, wie ich finde, ganz gut. Allerdings hat er die Schwäche der Schirrmacherschen Argumente noch nicht ausreichend artikuliert.

Nämlich?

Henscheid: Schirrmacher wirft Walser zum Beispiel den Satz vor: "Sehen Sie sich vor, Herr Ehrl-König." - Walsers jüdischer Protagonist, alias Marcel Reich-Ranicki - "Ab heute Nacht null Uhr wird zurückgeschlagen."

Eine deutliche Anspielung auf Adolf Hitlers Satz "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen".

Henscheid: Ja, aber Schirrmacher stellt bei diesem Zitat nicht dar, daß es sich um Rollenprosa in einem bestimmten szenischen Zusammenhang handelt: dies wird nämlich in einer Literatenrunde, kurz vor Mitternacht - wohl auch noch in angetrunkenem Zustand - geäußert. Wenn so ein banal-realistisches Gerede, solch eine Szene, schon zum Vorwurf des Antisemitismus gegenüber dem Autor führt, dann muß man wirklich um die Freiheit der Kunst fürchten und Walser beispringen. Aber es sind vor allem die Ereignisse am Rande, die das eigentlich Erstaunliche sind, und die natürlich nur die Leute mitbekommen, die den Literaturbetrieb gut kennen. Etwa, daß Schirrmacher verschweigt, daß sein eigener Literaturredakteur, Hubert Spiegel, der einer der wenigen ist, die den Text vorher kannten, keineswegs Protest erhoben hat. Schirrmacher stellt die Sache aber in der FAZ so dar, als ob die gesamte Redaktion der Zeitung ihm wie ein Mann bei seinem manifestartigen Protest zur Seite gestanden hätte.

Auch Sie haben Marcel Reich-Ranicki bereits aufs Korn genommen. Frank Schirrmacher nennt Ihr Buch "Erledigte Fälle. Bilder deutscher Menschen" als Beispiel dafür, wie solche Kritik aussehen soll, damit kein Antisemitismus-Verdacht aufkommt.

Henscheid: Das ist mir zu harmlos, schließlich ist meine Parodie auf Reich-Ranicki, nicht nur eine stilistische Parodie, sondern setzt durchaus bei der Existenz dieses sogenannten intellektuellen Kritikers an. Bei fast allen seinen Artikeln handelt es sich genaugenommen doch nur um die Simulation von Kritik. Das Ganze ist eigentlich nur eine große Gaunerei, was seit langem fast keiner mehr mitbekommt. In den siebziger und achtziger Jahren wurde derlei noch hinreichend erkannt und verhöhnt, außer von mir oder etwa Peter Handke.

Was aber haben Sie in den Augen Schirrmachers richtig gemacht, was Walser falsch gemacht hat?

Henscheid: Ehrlich gesagt, bin ich überzeugt davon, würde ich meine Satire von 1984 heute zum ersten Mal veröffentlichen, würden die politisch Korrekten auch darauf losgehen. Heute wird sie nur geschont und hat nicht direkt mit dem Antisemitismusvorwurf zu rechnen, weil sie schon alt und damit in gewissem Maße klassisch ist.

Das heißt, die geistige Situation in der Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahren im Sinne der Verdichtung der political correctness verändert?

Henscheid: Unsere geistige Landschaft ist in der Tat sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, von einem sehr unmusischen Denken, das vielleicht für politische Talkshows von Vorteil ist, aber nicht für das Entstehen von Literatur.

Was meinen Sie konkret?

Henscheid: Daß zum Beispiel in Romanen etwas wie Kunst, Weltbespiegelung und Welterklärung stattfindet, interessiert heute fast keinen mehr.

Marcel Reich-Ranicki lehnt Walsers neues Buch ab. Allerdings nicht wegen des Inhaltes, sondern wegen der literarischen Mängel.

Henscheid: Nachdem es offenbar um Reich-Ranicki selbst geht, hätte er als Kritiker lieber den Mund halten sollen.

Wenn es Walser wirklich nur um die Person Marcel Reich-Ranickis geht, hätte er dann nicht einfach den jüdischen Aspekt in seinem Buch außen vor lassen können, um die eigentliche Botschaft seines Buches nicht mit solch einem Streit, wie er jetzt entstanden ist, zu verwässern?

Henscheid: Walsers Beimischung dieser Elemente scheint mir prima vista auch nicht besonders geglückt. Dennoch ist diese Ungeschicklichkeit nicht so gravierend, wie das hinter der Kritik daran drohende Verbot für Romanautoren, über solch "heikle" Sachen in Zukunft nicht mehr schreiben zu dürfen.

Enthält das Buch, nach den Ihnen bekannten Auszügen zu urteilen, denn tatsächlich antisemitische Botschaften?

Henscheid: Nach dem, was ich bislang kenne, überhaupt nicht. Es handelt sich meist um sogenannte Figuren- oder Rollenprosa, die eben das übliche "Gewäsch" der porträtierten Literaten wiedergibt. Wenn an solche Szenen die Meßlatte der political correctness angelegt wird, dann kann man in Deutschland künftig keine sinnvollen, sinnlich stimmigen Romane mehr schreiben.

Kritiker identifizieren in Walsers Roman Schemata wie das vom Juden, der nichts Eigenes schafft, dafür aber vom naiven Wirken und Wissen der anderen Figuren zehrt und deren Fähigkeiten als die eigenen darstellt. Das ist sicherlich ein antisemitisches Klischee. Die Frage ist aber, ob das Schema wirklich nur das Klischee erfüllt oder erst von Walsers Kritkern darauf reduziert wird?

Henscheid: Diese Frage läßt sich, wenn überhaupt, erst nach Erscheinen des Buches klären. Allerdings, auch wenn der Autor sich aufs Glatteis eines Rittes über den Bodensee begibt, so hat seine Freiheit, das zu tun, im Zweifelsfall Vorrang vor irgendwelchen Vorgaben, die selbsternannte gesellschaftliche Kräfte an die Literatur richten.

Selbst wenn die Passagen als antisemitisch gelesen werden können?

Henscheid: Selbst dann, denn solange der Fall nicht eindeutig ist, rangiert die Freiheit des Autors ganz vorne, und erst viel weiter hinten rangiert das Problem, dabei eventuell falsch verstanden werden zu können. Auch Goethes "Faust" und fast alle Wagner-Opern wurden folgenreich falsch verstanden. Das ist bedauerlich, aber offenbar unvermeidbar.

Jede eindeutige Kunst wäre politisch kontrollierbar. Gehört die Möglichkeit, falsch verstanden zu werden nicht eigenlich zur Freiheit der Kunst?

Henscheid: Ja, nur die eigentlich nachgeordnete Frage nach den Folgen der Kunst wird heute leider zu allererst gestellt. Wie man bei der Vorverurteilung im Falle Möllemanns deutlich sehen kann, obwohl er überwiegend Richtiges gesagt hat.

Psychologisch ist das allerdings vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte auch nicht verwunderlich.

Henscheid: Das mag sein, aber mit dem sogenannten und speziellen Judentabu in Deutschland konnte ich mich noch nie anfreunden. Der Widerspruch, daß das Judentum einerseits kritisierbar sein soll, andererseits immer gesonderten Tabuschutz genießt, wird ja immer alberner.

Man muß zumindest den jüdischen Vertretern dieses Tabus zugute halten, daß sie durch eigenes Erleben oder den Verlust von Angehörigen in der Zeit des Nationalsozialismus traumatisiert sind.

Henscheid: Das erklärt aber dennoch schwerlich Aussagen wie die Paul Spiegels, die Worte Möllemanns gegen Michel Friedman seien "die größte Beleidigung der Juden nach dem Holocaust" gewesen. Da kommt ein solches Mißverhältnis zum Ausdruck, daß ich nur noch wenig Skrupel habe, mein "eigenes" Judentabu zu brechen und zu fragen: Ist Herr Spiegel noch bei Sinnen?

Was Ihnen, wie Jürgen Möllemann, den Antisemitismusvorwurf einbringen dürfte.

Henscheid: Möllemann hat leider fast alles zurückgenommen. Lauter Dinge, die er nicht hätte zurücknehmen müssen. Die Aussagen seines neuen Parteifreundes Jamal Karsli sind in der Tat sehr fragwürdig. Aber die hat sich Möllemann ja auch nicht zueigen gemacht. Es wäre für ihn besser gewesen, diesem offenbar kein Maß mehr kennenden Fernsehkasper Friedman weiterhin standhaft Paroli zu bieten. Wenn Möllemanns Aussagen tatsächlich schon einen Klimawechsel in Deutschland bewirken sollten, dann hat dieser Klimawechsel meinen Segen.

Man kann Michel Friedman nicht vorwerfen, daß er seine Stellung mißbraucht. Er nutzt wie jeder Politiker nur die Mechanismen der bundesdeutschen Mediengesellschaft.

Henscheid: Ich habe den Eindruck, daß da eine TV-öffentliche Stellung zu jeder Frechheit gebraucht wird. Zum Beispiel, um den anderen Grundwert des deutschen Geisteslebens, nämlich die geistige Freiheit, möglichst negligeabel zu halten. In dieser Frage werden Sie mich aber immer, egal wie die politische Stimmung im Land ist, auf der Seite derer sehen, die die Sache der geistigen Freiheit vertreten. Um es zu wiederholen: Wer den Holocaust und Möllemans dicta auf eine Ebene bringt, der hat das Recht verwirkt, noch für voll genommen zu werden. Derjenige - nicht Möllemann - ist der rein taktische, verantwortungslose Schwätzer.

 

Eckhard Henscheid geboren 1941 in Amberg/ Oberpfalz. Nach dem Studium der Germanistik und Journalistik in München gehörte er in Frankfurt am Main zu den Mitbegründern der "Neuen Frankfurter Schule". Einen Namen machte er sich als Schriftsteller, Essayist und Satiriker, er schrieb in allen großen deutschen Blättern von der FAZ bis zur Zeit, aber auch im Playboy oder in Konkret. Heute ist er Kolumnist der Frankfurter Rundschau und Autor des Satiremagazins Titanic, das er 1979 als Nachfolger der Zeitschrift Pardon mitgegründet hat. 1984 veröffentlichte er eine Kritik an Marcel Reich-Ranicki, die Frank Schirrmacher jetzt gegen Martin Walser ins Feld führt.

 

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