© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Auf der Suche nach Gottes eigenem Land
Nation, Union, Imperium: Überlegungen zum Überleben der Völker und Kulturen (Teil I)
von Günter Zehm

Union oder Nation - ein Blick in die Geschichte gibt keine eindeutige Auskunft darüber, was denn nun für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen zuträglicher sei. Und das liegt nicht zuletzt daran, daß es eine freiwillige Union, einen freiwilligen Zusammenschluß von Stammesverbänden oder "Nationen" bis dato kaum je gegeben hat. Vage wissen wir aus der germanischen Frühzeit, daß es damals hin und wieder zu Vereinigungen verschiedener Stämme gekommen sein muß; deren Zweckbestimmung aber bleibt unklar.

Außerdem handelte es sich bei diesen Vereinigungen stets um das Vereinen von Stämmen mit gleicher Sprache und mit einem gemeinsamen Ursprungsmythos, so daß man wohl eher von Nationen als von echten Unionen sprechen muß. Sie hielten auch nicht lange. Dietrich von Bern versuchte während der Völkerwanderungszeit vergeblich, eine Union der einzelnen germanischen Völker herbeizuführen. Die Regel war, daß sich gerade nah verwandte Völker meistens am gnadenlosesten bekriegten; man denke an die blutigen Fehden der Franken gegen die Alemannen oder gegen die Sachsen.

Die ersten dauerhaften Unionen waren Imperien, also von einer Führungsnation gewaltsam zusammengebrachte Vielvölkerstaaten, deren Mitgliedschaft alles andere als freiwillig war, auch wenn sich im Laufe der Zeit für die unterworfenen Völker gewisse zivilisatorische, rechtsstaatliche und ökonomische Vorteile aus dieser Mitgliedschaft ergeben mochten. Das Reich Alexanders und das römische Reich waren solche Imperien. Sie stifteten aber keine neuen Identitäten. Alexanders Zwangsehen zwischen Griechen und Persern verhinderten nicht, daß nach seinem Tode das Imperium sofort in national oder stammesmäßig bestimmte Satrapien auseinanderfiel. Und das imperiale Rom ging mit der Verleihung des römischen Bürgerrechts an Menschen anderer Nationalität äußerst sparsam um. Als dieses Recht nach Jahrhunderten endlich beinahe Allgemeingut geworden war, hatte es keinen Wert mehr, da sich das Reich bereits in voller Auflösung befand.

Der Glaube stiftete übernationale Identität

In späteren Jahrhunderten wurde gemeinsamer Glaube zum haltbarsten imperialen Kitt, so im islamischen Kalifat und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Nationen verschiedener Sprache und Tradition einten sich im Zeichen des Halbmonds oder des Kreuzes, und damit wurde tatsächlich zum ersten Mal kraftvolle übernationale Identität gestiftet. Man verstand sich nun in erster Linie als Moslem bzw. als Christ und erst in zweiter Linie als Angehöriger eines bestimmten Volkes. Der Glaube stiftete übernational-gemeinsame Verhaltensweisen, Loyalitäten, Wirtschafts- und Schulformen, schaffte es freilich nicht, die imperialen Binnenverhältnisse wirksam zu pazifizieren. Im Gegenteil, zu den üblichen Eroberungskriegen, die die Feudalherren und Städte gegeneinander führten, traten jetzt regionale Glaubenskriege wie etwa die Hussiten- oder die Waldenserkriege.

Außerdem wurde durch den Aufstieg des Glaubens zur Herrschaftssache das Verhältnis des Imperiums zur Außenwelt unerhört belastet. Der Fremde wandelte sich vom bloßen Barbaren zum ungläubigen Erzfeind, der entweder bekehrt oder ausgerottet werden mußte. Mit "Rechtgläubigkeit" konnte man das eigene Herrschaftsinteresse, das eigene Gefühl der Überlegenheit und Auserwähltheit sehr viel besser "begründen" als mit bloßer Stammesherkunft oder zivilisatorischer Fortschrittlichkeit. Eroberungskriege wurden zu Missionen, man brachte den Unterworfenen Erlösung. Wirksame Völkerverständigung kam dadurch nicht zustande.

Aufklärung und Romantik haben das Existenzrecht der Völker gegenüber missionierenden, planierenden Glaubensimperien scharf herausgearbeitet. Herder verwies darauf, daß erst die Vielfalt der verschiedenen Sprachen, Traditionen und Volkskulturen wahre Menschheitskultur konstituiere, und er gab sich große Mühe, den Farbbeitrag kleinerer Völker ins recht Licht zu rücken. Hegel sprach von "Volksgeistern" als notwendigen Stufen auf dem Weg zum absoluten Geist. Entscheidend für die weitere Entwicklung war aber wohl, daß sich die Nation, die in Sprache, Kultur und Territorium halbwegs homogene, als Staat organisierte Volksgemeinschaft, als ein erstrangiges Glacis für die sich entwickelnde moderne Wirtschaftsgesellschaft erwies, als eminente Produktionskraft und als effektiver, gut zu kalkulierender Markt für industrielle Großproduktion.

Man sollte nicht vergessen, daß der Nationalstaat auch für den sogenannten kleinen Mann, für Arbeiter, Bauern, Handwerker, sehr attraktiv war. Nicht nur schützte er sie vor allzu drückender Konkurrenz beim Kampf um die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze oder vor ausländischen Produkten, er erleichterte ihnen auch, sich in die bürgerliche Gesellschaft einzufügen und in ihr aufzusteigen. Man denke nur an die Sprache! Im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation spielte sich höhere Kommunikation einzig in Latein oder Griechisch ab, der kleine Mann blieb ausgeschlossen. Im neuen Nationalstaat hingegen, besonders in Deutschland mit seinem schon früh zu guter Höhe aufgestiegenem Schulwesen, konnte er an wichtigen Diskursen zumindest zuhörend teilnehmen. Sein Selbstbewußtsein stieg, es wuchsen die Möglichkeiten zur Standesemanzipation und zur Mitbestimmung.

Vom heutigen Stand aus muß man konstatieren: Der klassische Nationalstaat ist das Erfolgsmodell des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Das kann man an Japan sehen, aber auch an den mittelgroßen westeuropäischen Staaten, also an Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien. Es läßt sich einfach nicht leugnen, daß im Rahmen dieser Nationalstaaten der Rechtsstaat, die Durchsetzung der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten, das Erziehungswesen, die Marktwirtschaft, die Volksfürsorge, der Wohlstand also, bisher am besten gesichert werden konnten. Noch keine Union war dauerhaft in der Lage, mit dem Modell Nationalstaat erfolgreich zu konkurrieren.

Man nehme die untergegangene Sowjetunion, die UdSSR! Sie war bekanntlich nicht nur als Befreiungsinstanz für die angeblich bis aufs Blut ausgebeuteten, total entfremdeten und unerlösten Proletarier des alten Zarenreiches angetreten, sondern begehrte, die Proletarier aller Länder zu erlösen und zu befreien, zu befreien nicht zuletzt vom Druck des nationalen Prinzips. Die Sowjetunion verstand sich nicht nur als Alternative zum Kapitalismus, sondern im gleichen Atemzug als Alternative zum nationalen Prinzip, das angeblich nur eine kapitalistische Fiktion war, um die Arbeiter gegeneinander aufhetzen zu können.

Nichts, aber auch gar nichts sollte den Arbeiter eines Landes mit dem Unternehmer oder dem Lehrer oder dem Pfarrer desselben Landes verbinden, nicht die gemeinsame Sprache und nicht der gemeinsame Glaube, nicht die gemeinsame Tradition und Kultur, nicht gewisse nationale Eigenheiten und Vorlieben, nein, der Arbeiter war nach dieser Lehre ein total Fremder in seinem Geburtsland, sein Vaterland lag jenseits der Grenzen, eben in der Sowjetunion, dem "Vaterland aller Werktätigen", wie sie sich offiziell auch nannte.

Aber statt eine Republik der wenigstens in nationaler Hinsicht Gleichen zu sein, erwies sich diese UdSSR sofort nach Beendigung der Bürgerkrieges, der sie installierte, als ein Imperium alten Stils, in dem eine einzelne "Staatsnation", in diesem Falle die Russen, andere Nationen unterdrückte, sie ihrer Identität beraubte und unter Umständen sogar ausrottete.

Nicht die Nation, sondern die Union stellte sich als Fiktion heraus, d.h. die Unionsorgane waren in Wirklichkeit russische Organe, mit einigen fremden als folkloristischen Einsprengseln. Die in der Verfassung verbriefte Freiwilligkeit des Eintritts oder Austritts in und aus der Union war ebenfalls eine Fiktion. Nationen wie 1921 die Georgier, die austreten wollten, wurden von der Zentrale mit Waffengewalt und schwersten Sanktionen daran gehindert. Nationen, die nicht eintreten wollten, wie die baltischen, wurden militärisch besetzt und zum Teil aus ihrer angestammten Heimat deportiert. Und es wurde eine planvolle Russifizierungspolitik ins Werk gesetzt, die letztlich dazu geführt hat, daß heute, da nun alles per Implosion zusammengefallen ist und die alten Nationen wieder zu ihrem Recht kommen wollen, beispielsweise in Lettland fast die Hälfte der Bevölkerung aus Russen besteht.

Sollen die Toten über die Lebenden herrschen?

Wie steht es mit der anderen modernen Union, die den Menschen im zwanzigsten und auch schon im neunzehnten Jahrhundert als Alternative zum nationalen Prinzip angeboten wurde, den USA, den Vereinigten Staaten von Amerika? Diese Union war natürlich ungleich erfolgreicher als die UdSSR, und sie hat die Demokratie, die Menschenrechte und die Marktwirtschaft nicht nur auf ihre Fahnen geschrieben, sondern praktiziert sie auch mit beachtlichem Erfolg. Sie ist heute mächtig wie nie zuvor, und viele Nationen orientieren sich an ihr.

Freilich, auch an ihrem Ursprung standen Ausrottung und Versklavung. Die oft beschworene Perspektive des "leeren Landes" und der "offenen Grenze", die der Geschichte der USA gleichsam den Rahmen geliefert habe, ist wiederum eine Fiktion. Sie stimmt nur, wenn man von den Ureinwohnern, den Indianern, absieht, die von den vordringenden Siedlern entweder erschossen, mit Syphilis und/oder Feuerwasser infiziert oder in Wüsteneien abgedrängt wurden.

Die Siedler, die kamen, waren in ihrer ethnischen Zusammensetzung für lange Zeit sehr homogen, fast wie bei einer der alten europäischen Nationen; sie rekrutierten sich aus England und Schottland, aus Irland und Deutschland, aus Skandinavien, Österreich-Ungarn und Rußland. Negersklaven wurden bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts importiert, und bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren sie in vielen US-Staaten der Apartheid unterworfen, verfügten also nicht über die ganze Skala der Bürgerrechte und konnten nicht in die Mittelklasse aufsteigen.

Nachdem man sich endgültig auf Englisch als Verkehrssprache geeinigt hatte (eine Zeitlang war als Alternative Deutsch im Gespräch gewesen), begannen sich die weißen Siedler sehr schnell als Nation zu fühlen, wenn auch mit entschieden antieuropäischer Attitüde. Man kann das sehr gut an den Schriften Thomas Jeffersons nachvollziehen, des dritten amerikanischen Präsidenten, der 1776 die Unabhängigkeitserklärung redigiert hat und unter dessen Ägide Washington die Hauptstadt des neuen Bundesstaats wurde.

Lange Zeit hielt Jefferson die nationalen Unterschiede schlichtweg für vernunftwidrig. Die Geschichte sei nichts Erfreuliches oder gar Traditionsstiftendes, sondern "unnützer Ballast", vergiftende, hinderliche Macht aus den Gräbern. "Wir dürfen die Toten nicht zu Herren über die Lebenden machen", schrieb Jefferson. Sämtliche Gesetze und Einrichtungen sollten nach einer gewissen Zeit suspendiert, überprüft und den neuen Gegebenheiten angepaßt werden. Alles sei puren Nützlichkeitserwägungen zu unterstellen.

Für das alte Europa hatte Jefferson nichts als Verachtung übrig - aber gerade das führte ihn zur Formulierung eines zwar angeblich "völlig neuen", im Grunde aber doch ganz und gar herkömmlichen Nationalbegriffs. Amerika sei die "auserwählte Nation", sagte er. Genau wie die alten europäischen Nationen schufen Jefferson und die Seinen einen Ursprungsmythos, eben jene Erzählung von der Besitznahme von "Gottes eigenem", ansonsten leerem Land und von der new frontier mit ihren heroischen Trappern, Squattern und freiheitsliebenden Abenteuern.

Außerdem schottete man sich energisch gegen die Einwanderung nichtweißer Völker ab, indem man ein Einwanderungsgesetz erließ, das Quoten nach Maßgabe der bereits im Land befindlichen Nationalitäten festlegte, also soundsoviel Prozent Deutsche, weil soundsoviele Deutsche bereits im Lande leben usw.

Die berühmten frühen Chinesenviertel in San Francisco oder Seattle etwa wurden keineswegs aus regulären Einwanderern gebildet, sondern aus entlassenen chinesischen Eisenbahnarbeitern, die einst von Agenten irregulär und unter sklavenhändlerischen Bedingungen ins Land geholt worden waren und die man danach nicht mehr loswurde. Sie waren damals und noch für lange Zeit hochexotische Inseln im nationalen Gefüge.

Die Rede vom meltingpot, vom Schmelztiegel Amerika enthielt stets mehr Ideologie als Wirklichkeit; heute, nachdem das alte Einwanderungsgesetz im Jahr 1965 gefallen ist, ist das noch deutlicher als früher. Amerikanische Sozialphilosophen, zum Beispiel Edward Digby oder Richard Brookhiser, sprechen denn auch, statt vom Schmelztiegel, vom "Puzzle Amerika", womit sie sagen wollen, daß die verschiedenen Nationalitäten alle ihr je eigenes Leben leben und erst zusammengelegt so etwas wie die "Identität Amerika" ergeben.

Und auch dieses Puzzle erweist sich immer mehr als Fiktion, weil sich die einzelnen Teile immer weniger gern zusammenlegen lassen, je mehr Schwarze, Latinos und Asiaten ins Land einwandern. Man kann das besonders gut am Erziehungssystem ablesen. Im selben Maße, wie sich dort Schüler- oder Studentenmehrheiten islamischer, asiatischer oder afrikanischer Herkunft herausbilden bzw. konsolidieren, wächst die Forderung nach Abschaffung des "Eurozentrismus", wie es heißt.

Das "Puzzle Amerika" erweist sich als Fiktion

Bisher unterschieden sich die universitären Curriculae in Europa und in Amerika nur wenig voneinander. Diesseits wie jenseits des Atlantik dominierte der Blick auf griechisch-römische Antike und christliches Mittelalter sowie auf Renaissance und Aufklärung, verbunden mit Demokratiegeschichte und Einführung in die moderne Naturwissenschaft. Doch damit soll es drüben nun bald vorbei sein.

An die Stelle des "eurozentrischen" Musters soll nach den Forderungen zahlreicher Pädagogen und Politiker ein "multikulturelles" Muster treten. Die historischen Grundlagen des geltenden Rechts dürften nicht länger exklusiv im römischen Jus gesucht werden, sondern müßten gleichermaßen an überkommene asiatische Familien-Gerechtsame anknüpfen. Und was die Demokratie betreffe, so solle man endlich einsehen, daß sie nicht nur auf Locke, Montesquieu, Rousseau usw. aufbaue, sondern nicht minder auf außereuropäischen Traditionen wie zum Beispiel den afrikanischen Stammespalavern.

Die Herausforderung ist total und rührt an das Selbstverständnis des amerikanischen Unionsgedankens. Bis dato galt ja, daß sich die USA (nicht anders als die Sowjetunion) stets als Resultat eines übergreifenden geistigen Konzepts, einer bewußt herbeigeführten, freien Willensentscheidung dargestellt haben. Am Anfang stand nicht ein einzelnes Volk, sondern eine aus "allgemeinen Menschenrechten" abgeleitete Verfassung, auf die sich jeder Einwanderer, aus welchem Volk auch immer, ausdrücklich zu verpflichten hatte. Heute nun wird dieses norm- und formgebende, durchaus noch europaorientierte Skelett von den einwandernden Völkerschaften und Religionsgemeinschaften immer weniger akzeptiert, wird aufgeweicht und mürbe gemacht. Damit droht aber der ganze Staatsleib über kurz oder lang zusammenzufallen. Kein außenpolitischer Neoimperialismus vermag dieses fundamentale Problem aus der Welt zu schaffen.

Bildtext: Ostgotenkönig Theoderich der Große (um 453-526) war Protektor der germanischen Stämme

Bildtext: Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, John Adams und Roger Sherman (v.l.n.r.) entwerfen 1776 die Unabhängigkeitserklärung der USA

 

Den zweiten Teil lesen Sie nächste Woche in der JF 25/02.


 
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