© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002


Furcht vor dem Fehltritt
von Doris Neujahr

Den stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Jürgen W. Möllemann darf man als gehässig und arrogant bezeichnen, schließlich leben wir in einem freien Land. Und Michel Friedman, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, kann man noch weitaus gehässiger und arroganter nennen und hinzufügen, daß er mit moralischer Epressung Politik und Karriere macht.

Doch in einem freien Land verbietet es sich, individuelle Eigenschaften auch nur hypothetisch als Begründung für eine kollektive Abwertung - und darum handelt es sich beim Antisemitismus - heranzuziehen. Man darf das umso weniger, weil damit einer Minderheit die gleichberechtigte Augenhöhe gegenüber der Mehrheit bestritten wird. Gegenüber Juden, die unter dem von Deutschen verursachten Holocaust zu leiden hatten (und immer noch leiden), darf man das schon gar nicht.

Natürlich ist Jürgen W. Möllemann kein Antisemit. Er hat im Streit mit Michel Friedman auf einen groben Klotz den groben Keil gesetzt und dabei die Kontrolle über seine Rhetorik verloren. Der andere Vorwurf, er "spiele" mit antisemitischen Klischees, geht fehl, denn Möllemann weiß selbst, daß man mit solchen "Spielen" ins Abseits gerät. Daß ihm der Fauxpas dennoch passiert ist, zeigt nur die Kompliziertheit des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Es ist ein Minenfeld, über das man sich auf schmalem Pfad bewegt. Die Furcht vor dem Fehltritt, die Schadenfreude der Pharisäer, die psychologische Belastung der Situation können den Betreffenden ins Straucheln und die Mine zur Explosion bringen.

Das aktuelle Pharisäertum betreibt vor allem eine Verwirrung der Begriffe. Kritik an Israel gleich Antizionismus gleich Antisemitismus gleich Populismus gleich Rechtsextremismus, lautet die primitive Gleichung. Die künstliche Aufregung der Grünen und der SPD ist deren Recht, wie es die Pflicht des Wählers ist, solche Manöver zu durchschauen. Wenn die Journalisten im Chorgesang über Möllemann herfallen, liegt es auf der Hand, daß sie ihr Gewissen und ihr Schweigen über die Vorgänge um das Flüchtlingslager Dschenin übertönen möchten.

Doch selbst Leute, die solche Aufregung sonst aus akademischer Distanz betrachten, verlieren die Contenance. Ende April brachte der Historiker Michael Wolffsohn, der in der Vergangenheit ein entspannteres Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden anmahnte und auch die Konfrontation mit dem Zentralrat nicht scheute, in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung einen Aufruf des Zentralrats zum Wahlboykott der FDP wegen deren "Anti-Israel-Politik" ins Spiel. "Ein Bundesaußenminister, hieße er Westerwelle oder Möllemann, bekäme durch ein deutsch-jüdisches 'Nein', besonders für Reisen in die USA, das denkbar schlechteste Empfehlungsschreiben auf seinen Weg."

Für die Irritationen und Leidenschaften, die hier zutage treten, reichen "Möllemann" oder "Karsli" als Erklärung nicht aus. Beide sind nur die Vorboten des fälligen Paradigmenwechsels im gesellschaftlichen Bewußtsein und in der öffentlichen Rede. Ein solcher Wechsel findet statt, wenn die vorhandenen Denk- und Handlungsmuster die neuen Erkenntnisse, Anforderungen, Zwänge und Notwendigkeiten, die von einer dynamischen Wirklichkeit produziert werden, nicht länger integrieren können. Daß dieser Prozeß sich seinen Weg über die Vergewisserung des deutsch-jüdischen Verhältnisses sucht, ist naheliegend, weil hier der Angelpunkt des aktuellen gesellschaftlichen Bewußtseins liegt. Es ist ebenfalls kein Zufall, daß die Diskussion sich am Nahost-Konflikt entzündet.

Das Verhältnis Deutschlands zu den Juden und Israel ist ein besonderes. Wie sicher Juden sich hierzulande fühlen können, ist der Gradmesser der eigenen Zivilität. Dieses Verhältnis hat inzwischen eine problematische Überhöhung erfahren, die an den Bereich des Religiösen heranreicht. Die Zwillingsschwester dieser Überhöhung ist die Hypermoral. Sie zeigt sich in der Neigung, das politische Handeln - egal, ob Ausländergesetze, Jugoslawien-, Golfkrieg oder Nahost-Konflikt - kaum sachbezogen, sondern unter dem Gesichtspunkt eines "Nie wieder!" zu diskutieren. Diese Hypermoral fällt über ihre eigenen Füße, wenn "Juden, die man gern als Opfer hegt" (Robert Goldmann), sich gegenüber den Palästinensern als Aggressoren betätigen. Das Dilemma wird durch Realitätsverweigerung und Doppelmoral gelöst. Möllemann ist der Störenfried dieser falschen Moralität. Man nimmt ihm übel, daß er über Scharon das Selbstverständliche offen gesagt hat.

Besonders ist auch die psychologische Lage der deutschen Juden. Israel ist für sie eine spirituelle Heimat, viele haben dort Verwandte, sie fühlen sich ihm in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden und betrachten den jüdischen Staat als Schutzmacht für alle Fälle. Es ist das Verhältnis, das Schiffbrüchige zum Seenotrettungsdienst haben. Für Juden in Deutschland ist es schwierig, Kritik an der israelischen Politik zu üben, denn "jede Kritik an Israel hätte die Frage provoziert, wie ausgerechnet sie, die auf verfluchtem Boden lebten, sich eine solche Kritik herausnehmen könnten" (Micha Brumlik, 1983).

Es gibt jedoch Gegenbeispiele. Zum Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila - in Belgien ist deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen Scharon anhängig - schrieb die Jüdische Allgemeine unter dem Titel "Das Verbrechen und die Folgen", Israel habe sich "an dem Massenmord mitschuldig gemacht" (AJZ, 24. September 1982), und der Zentralrat erklärte, daß das Versagen der israelischen Regierung als Schuld angesehen würde. Das unkritische Verhalten des aktuellen Zentralrats gegenüber Scharon ist also keine Naturnotwendigkeit, sondern das konkrete Versagen seiner Repräsentanten.

Die nichtjüdischen Deutschen haben, aus ihrem Schuldtrauma heraus, die Juden in die Rolle einer Überinstanz gedrängt. Der deutsch-jüdische Autor Rafael Seligmann hat in seinem - übrigens grottenschlechten - Roman "Der Musterjude" (1997) konstatiert, die Deutschen seien "süchtig nach jüdischen Themen. Ihre Zeitschriften quellen über mit Artikeln jüdischer Autoren. Jakobson, Broder, Wolffsohn, Brumlik, Biller, Seligmann und die anderen Idioten können schmieren, was sie wollen, die Deutschen sind darauf versessen, den Tinnef zu lesen." Diese Sucht hat wenig mit den Qualitäten oder Anliegen der konkreten Personen zu tun, "die Herrn Bubis, Friedman, Wolfssohn, Broder und so manche andere werden", so Seligmann, "meist eben nicht wegen ihrer Klugheit oder ihres guten Aussehens befragt, sondern allein aufgrund einer Tatsache: Sie sind Juden".

Die Rangerhebung hat also eine psychosoziale Funktion. Die nichtjüdischen Deutschen lassen sich von Juden je nach Temperament kritisieren, mahnen, loben, ermutigen, um schließlich von ihnen die Absolution zu erhalten und ihr angeknackstes moralisches Selbstgefühl zu stabilisieren. (Eine ähnliche Funktionalisierung betreiben die Propheten der multikulturellen Gesellschaft auch mit Ausländern. Diese interessieren sie nicht konkret, sondern als ideologische Projektion.)

Diese Entlastungsfunktion wurde von Ignaz Bubis hervorragend ausgefüllt. Von ihm ging eine natürliche Autorität aus, er war eigensinnig, wirtschaftlich unabhängig, von einem starken moralischen Impuls erfüllt und gewillt, das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen auf eine feste Grundlage zu stellen. Durchaus machtbewußt, fragte er in Interviews aber immer öfter mißtrauisch zurück, warum man sich bei ihm über Angelegenheiten erkundige, für die er gar nicht zuständig sei. Die kurz vor seinem Tod geäußerten Zweifel, ob seine Bemühungen nicht doch "umsonst" waren, dürften damit zusammenhängen, daß er die Funktionalisierung durchschaut hatte. Möglicherweise schwante ihm, daß es für sein Anliegen nützlicher gewesen wäre, sich häufiger mit ähnlich eigensinnigen, starken und moralischen Menschen wie Martin Walser öffentlich zu fetzen, statt von Gesinnungsopportunisten gefeiert zu werden.

In Bubis' Windschatten sind Personen aufgestiegen, denen seine Skrupel fremd sind und die ihr Amt vor allem zur eigenen Profilierung nutzen. Michel Friedmans Auftritte beispielsweise sind ein einziger Egotrip: Schauspieler, der er ist, kultiviert er die physiognomische Nähe zu Gustaf Gründgens, als Mephisto zurechtgeschminkt. Seine aggressive Körpersprache löst beim Gegenüber Platznot aus. Die Kujonierung durch seine schneidend scharfe Rede wird so zum ganzheitlichen Erlebnis. Die Demütigung vollendet er, indem er den anderen zur Sprachlosigkeit verurteilt. Friedman macht den eigenen Standpunkt (und sich selber) durch den blitzartigen Verweis auf "die deutsche Geschichte" einfach sakrosankt. In der Diskussion über Israel konzediert er zwar das Recht auf Kritik, doch wo die Grenze zwischen Kritik und Antisemitismus verläuft, legt er allein und willkürlich fest. So bleibt er stets der Sieger. Er genießt seine Macht, die allerdings nicht auf Autorität, sondern auf der Furcht beruht, die er verbreitet.

Auch bei dem Friedman-Antipoden Michael Wolffsohn kann man selbstsüchtige Motive vermuten. Wolffsohn pflegt selbst gern den Tabubruch. In seinem Beitrag zum Band "Die selbstbewußte Nation" zählte er als unwürdige Träger des Friedensnobelpreise - in dieser Reihenfolge - unter anderen auf: "Arafat, Begin, Henry Kissinger". Seine Wortmeldungen garniert er fast immer mit dem Hinweis, daß er Jude ist. Sein Historikerkollege Kurt Sontheimer dazu: "Nur weil er als Jude firmiert, kann er seine große öffentliche Wirksamkeit entfalten. Als lediglich deutscher Patriot wäre seine Wirkung vermutlich gering." Anders gesagt: Träte die von ihm angemahnte "Normalität" tatsächlich ein, wäre seine herausgehobene Position obsolet. Seine Drohung gegen die FDP entspringt mithin eifersüchtigem Eigeninteresse.

Juden und Nichtjuden spüren, daß die eingeschliffenen Umgangsformen, Sprachregelungen und psychologischen Mechanismen in Auflösung begriffen sind, und reagieren verunsichert. Die nichtjüdischen Deutschen, weil sie sich vom adoptierten moralischen Über-Ich in seiner bisherigen Ausprägung lösen müssen, der Zentralrat der Juden, weil er seine gesellschaftliche Rolle neu zu definieren hat. Salomon Korn, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt/ Main, stellte aus Irritation darüber, daß die bisherige Rollenverteilung: die "Opfer" in ihrer "Wächterrolle" gegenüber den "Tätern" in ihrer "Bewährungsrolle", angesichts des Generationenwechsels unhaltbar wird, sogar die Frage, ob es richtig war, jüdisches Leben in Deutschland wieder aufzubauen (FAZ vom 6. Mai 2002). Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun, mit Korns gedanklichen Prämissen eine ganze Menge.

Seinen (ebenfalls in der FAZ gedruckten) Diskussionsbeiträgen zum Berliner Holcaust-Denkmals ist zu entnehmen, daß er sich das Verhältnis von Deutschen und Juden nur innerhalb jenes manichäistischen Modells vorstellen kann, das gerade ins Wanken gerät. Das Denkmal soll es zementieren: "Hier, in den ehemaligen 'Ministergärten', kreuzen sich die Schnittlinien deutscher Geschichte - Brandenburger Tor, Goethe-Denkmal, Reichskanzlei, Führerbunker, Berliner Mauer". Nimmt man noch die Nähe von Bundestag und Bundesrat, den Stätten des deutschen Parlamentarismus und Föderalismus, hinzu und Korns Argumentation ernst, dann bedeutet das: Die Quersumme deutscher Kultur, Politik, Geschichte ist - der Holocaust.

Es gehe, schrieb er weiter, um die Absage der "Täterabkömmlinge" und "Täternachkommen" an "einen Rest an ungebrochenem Nationalbewußtsein" und an "das Verlangen, im blutigen Ozean der jüngsten deutschen Geschichte unbefleckte Identifikationsinseln zu bewahren". In Deutschland soll "nationales Bewußtsein" nur noch durch die "'negative' Identifizierung" möglich sein. Schließlich: Das Denkmal "muß quer zur deutschen Geschichte stehen und gleichzeitig in sie integriert sein".

Die dürftige Sprache entspricht den unausgegorenen Gedanken. In den Ministergärten können sich keine "Schnittlinien", allenfalls Traditionslinien "überkreuzen", respektive überschneiden. Eine Sache, die zu mir quer steht, steht damit außerhalb und kann nicht gleichzeitig in mir "integriert sein". Die jüngste deutsche Geschichte ist die von Adenauer über Brandt bis heute, sie ist voller Verantwortungsgefühl und Versuche tätiger Reue, aber kein "blutiger Ozean". Korn weiß selbst, daß es nicht um die Rekonstruktion einer "ungebrochenen" deutschen Nationalgeschichte, sondern um ein geläutertes nationales Bewußtsein geht, das sich von jeder Hybris fernhält und negative und positive Traditionen klar unterscheidet. Weil sich dagegen nichts Vernünftiges sagen läßt, erklärt Korn den unsinnigen Popanz eines "Rests" an "Ungebrochenheit" zum Feindbild. Das Bestreiten "unbefleckter Identifikationsinseln" ist - um nur das zu sagen - eine ungeheuerliche Beleidigung des deutschen Widerstands gegen Hitler. Was Korn sich vorstellt, ist eine deutsche Endlosneurose, die er selber "bewacht". Das kann unmöglich ernst gemeint sein. Es ist jedenfalls nicht antisemitisch, sich gegen diese Zumutung zu wehren.

Wie immer der aktuelle Streit ausgeht: Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden und Deutschland und Israel können und werden auf unabsehbare Zeit nicht "normal" werden, sie lassen sich aber auch nicht in das Prokrustesbett eines Dogmas sperren. Das Leben selber läßt die Möglichkeit, dem Wagnis der Dynamik auszuweichen, gar nicht zu.

Fototext: Polizeischutz vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin: Die 49 jüdischen Einrichtungen in der deutschen Hauptstadt werden von 278 Wachpolizisten rund um die Uhr bewacht.

 

Doris Neujahr schrieb zuletzt in JF 21/02 über die Hintergründe des Mordes an Pim Fortuyn.


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