© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/02 21. Juni 2002

 
Blaue Allmacht an der Seine
Frankreich: Sieg für Chirac-Bündnis / Premier Raffarin bestätigt / Debakel für Linke / Front National ohne Sitze
Charles Brant

Adieu la gauche!" Am Wahlabend konnten Chirac-Anhänger ihre Freude nicht verhehlen und rie-fen der Linken immer wieder ein höhnisches "... und tschüß!" nach. Sie skandierten den Namen des Präsidenten, um Premier Jean-Pierre Raffarin im Amt zu bestätigen. Am Montag wurde Raffarin im Elyséepalast empfangen, wo ihn Jacques Chirac erneut mit der Regierungsbildung beauftragte. Schon am Dienstag stand die neue Kabinettsliste fest: In den Schlüsselpositionen blieben Veränderungen zum bisherigen Übergangskabinett aus, das der Rechtsliberale nach der Wiederwahl Chiracs am 5. Mai geleitet hatte.

Europaministerin wird die 54jährige Juristin und Bioethik-Spezialistin Noëlle Lenoir - ehemaliges Mitglied des Verfassungsrates. Ihr Vorgänger Renaud Donnedieu de Vabres (UDF) hatte seinen Rücktritt eingereicht, weil gegen ihn wegen einer Geldwäsche-Affäre ermittelt wird. Im Amt bleibt hingegen Finanzminister Francis Mer. Der Politikneuling und frühere Stahlmanager hatte Anfang Juni an den Börsen mit der Aussage für Verwirrung gesorgt, der EU-Stabilitätspakt sei "nicht in Stein gemeißelt". Neu im Kabinett ist auch die französische Kosmonautin Claudie Haigneré, die das Forschungsressort übernimmt.

Die bürgerliche Rechte gewann 399 der 577 Sitze, von denen 355 allein an die "Union für die Präsidentenmehrheit" (UMP) gingen. Immerhin gelang es François Bayrous christlich-liberaler UDF, ihre Autonomie zu bewahren und eine Fraktion von 29 Abgeordneten zu stellen. Der Chef der Démocratie Libérale (LD), Alain Madelin, sitzt wieder für seinen Wahlkreis Ile-et-Vilaine im Parlament. Der Front National (FN) dagegen ist nicht vertreten. Die Hoffnungen, die sich mit der Kandidatur von Le Pens Tochter Marine in Pas-de-Calais wie mit der Jacques Bompards, des Bürgermeisters von Orange, verbunden hatten, wurden enttäuscht. Isoliert und verteufelt sah sich der FN nicht in der Lage, die Hürde zu überspringen, die das Mehrheitswahlrecht aufbaut.

Jean-Marie Le Pen selbst war davon keineswegs überrascht. Der 73jährige hatte keine großen Erwartungen gehegt, sondern sich damit begnügt, das Wahlrecht zu kritisieren und zu versprechen, er werde den Sorgen der Franzosen auch weiterhin Gehör schenken.

Die Linke erhielt nur noch 178 Sitze, von denen 140 (1997: 241) an die Sozialisten (PS), 21 (1997: 39) an die Kommunisten (PC) und 3 (1997: 7) an die Grünen fielen. PS-Chef François Hollande konnte zwar wie seine Parteifreunde Laurent Fabius, Jack Lang oder Dominique Strauss-Kahn sein Mandat verteidigen, andere PS-Galionsfiguren wurden abgewählt: Martine Aubry in Lille, "Österreich-Boykotteur" Pierre Moscovici in Montbéliard oder Catherine Trautmann in Straßburg.

Hollande mag die Schlappe als "ehrbar" bezeichnen, seine Frau Ségolène Royal von "Ungerechtigkeit" sprechen - in Wirklichkeit ist die arrogante Linke vernichtend geschlagen worden. Die gesamte "pluralistische Linke" liegt am Boden; die Sozialisten können sich nicht länger als Fürsprecher des Volkes ansehen, die PS ist zur "Partei der Privilegierten" geworden. Ihre besten Ergebnisse erreichten sie in Paris und Lyon, den reichsten Städten Frankreichs.

Die Niederlage Aubrys, die als Sozialministerin unter Jospin die 35-Stunden-Woche einführte, spricht für sich. Selbst dem PC-Chef Robert Hue, der von der linken Mobilmachung im Zuge der Präsidentschaftswahlen profitieren konnte, wurde in Argenteuil vom Volk eine Absage erteilt. Die Erosion der PC, die Niederlage der Grünen, deren Chefin Dominique Voynet in Dôle scheiterte, der Untergang sowohl der Trotzkisten wie des Republikanischen Pols von Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Pierre Chevènement, der bis zum letzten Sonntag sein Mandat für Belfort seit 1973 ununterbrochen verteidigt hatte, weisen in dieselbe Richtung. Die einzige Genugtuung gab es in Paris, wo Bertrand Delanoë (PS) seit letztem Jahr Bürgermeister ist. Hier errang die Linke 12 von 21 Mandaten. Obwohl einige Kommentatoren einen "Delanoë-Effekt" sehen, dürften daran in Wirklichkeit eher die Affären, internen Querelen und die wirre Wahlkampfstrategie der Pariser Bürgerlichen schuld sein.

Zusammen erhielten die bürgerlichen "Blauen" und die PS 92 Prozent der Stimmen und dominieren damit eindeutig das neue Parlament. Diese Bipolarisierung, die die Vertreter der UMP als Schritt in Richtung einer "friedlichen Demokratie" und einer "politischen Modernisierung" begrüßen, resultiert aus der Perversität des Mehrheitswahlrechtes mit Stichwahl, das auch das Überleben der PC begünstigt, die landesweit unter fünf Prozent blieb. Obwohl die PC sich im freien Fall befindet, kann sie erneut eine Fraktion bilden, wenn auch ohne Hue. Dasselbe System hat aber die Grünen dezimiert und die sechs Millionen FN-Wähler ohne Vertretung belassen. Wie repräsentativ die neue Nationalversammlung tatsächlich ist, bleibt ebenso fraglich wie ihre Legitimität - erst recht angesichts der Wahlbeteiligung, die mit 60 Prozent ein neues Rekordtief erreichte.

Auch wenn die Machthaber sich bemühen, dies unter den Tisch zu spielen, indem sie dem schönen Wetter und der Doppelbelastung durch zwei Wahlrunden die Schuld geben, hat man längst begriffen, daß es sich um einen stillen Protest gegen das hermetisch verschlossene System der Scheindemokratie handelt. Le Pen ist nicht der einzige, der sich fragt, wie lange es so weitergehen kann, bis es zur Explosion kommt.

Momentan gibt Chirac sich als großer Sieger dieses Wahlkampfes in vier Runden und läßt sich als Stratege feiern. Tatsächlich ist Chirac eine Art "Wunderheilung" zuteil geworden. Mit einem fünfjährigen Mandat und einem Parlament, das ihm zu Füßen liegt, hat er eine letzte Chance bekommen, die ihm jedoch keinerlei Spielraum für Fehler läßt. Ob der Zusammenhalt der aus Chiracs neogaullistischer RPR, Raffarins LD und UDF-Abtrünnigen zusammengewürfelten UMP aufrechterhalten werden kann, muß sich erst noch zeigen. Diese Formation zwingt Politiker der unterschiedlichsten Richtungen zum politischen Schulterschluß: Sozialminister François Fillon (RPR) ist ein EU-Skeptiker, der sich dem neoliberalen Trend widersetzt und weiterhin eine starke Hand des Staates befürwortet, während LD-Chef Madelin sich als liberaler Europäer gibt. Alain Juppé (RPR), der an der Spitze der UMP steht, gilt als unnahbar und steif. Als Technokrat versteht er wenig von den Sorgen des "kleinen Mannes". Ihm ist kaum zuzutrauen, daß er dem Pluralismus der bürgerlichen Rechten Rechnung trägt, und das könnte sich fatal auf die Frage auswirken, was nach Chirac kommt.

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten haben die Franzosen eine bedenkliche Neigung zu Pendelbewegungen gezeigt: Mal schlagen sie nach links aus, dann wieder nach rechts. Der nächste große Wahlentscheid wird erst 2007 erfolgen. Bis dahin gibt es nur einen Ort, an dem die Franzosen ihre Unzufriedenheit ausdrücken können: die Straße.


 
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