© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Die wunderbare Karriere von D-209
Ungarn: Der neue Ministerpräsident Péter Medgyessy wurde als kommunistischer Geheimdienstagent enttarnt
Alexander Barti

Die Lüge dauerte nur wenige Stunden: am 18. Juni behauptete Ungarns neuer, "parteiloser" Ministerpräsident Péter Medgyessy, er sei "niemals ein Agent" gewesen, tags darauf mußte er im Parlament zugeben, daß er als "Offizier der Spionageabwehr" gearbeitet habe - "aber nicht schon seit 1961", wie er auf Anfrage des Fidesz-Abgeordneten Antal Rogán versicherte.

Nach eigenen Angaben war Medgyessy zwischen 1977 und 1982 im Finanzministerium der Volksrepublik Ungarn mit der Spionageabwehr beschäftigt. Er bekleidete den Rang eines Oberleutnants des Innenministeriums, für "besondere Verwendung", Codename D-209. Bei seinem Geständnis vor dem Parlament, das von keinerlei Schuldbewußtsein gekennzeichnet war, bezeichnete der Ministerpräsident seine Agententätigkeit als "alte Meisterschaft", mit der er seiner Heimat gedient habe. Gleichzeitig kündigte er an, daß seine sozialistisch-liberale Koalition ein Gesetz einbringen werde, um alle Akten der ungarischen Staatssicherheit (Abteilung III/III, zuständig für politische Verfolgung) der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich zu machen. Gefragt, wie er denn seinem Land als "Aufklärer" gedient habe, antwortete Medgyessy, daß er in jener Zeit dafür zuständig gewesen war, die Aufnahme Ungarns in den Internationalen Währungsfonds (IWF) und in die Weltbank vorzubereiten - und zwar gegen etwaige Sabotageaktionen der Sowjetunion.

Was beim ersten Blick nach einem rühmlichen Einsatz aussieht, hinterläßt bei genauerem Hinsehen etliche Zweifel. Denn die Zeit zwischen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre - nach dem Tod Breschnews - ist gekennzeichnet von einer neuen Eiszeit im Kaltem Krieg: In Ungarn nehmen die Verhaftungen zu, die halblegal hergestellten systemkritischen Medien (Samisdat) werden gnadenlos beschlagnahmt und vernichtet; die Sowjetunion marschiert 1979 in Afghanistan ein, in Polen kommt es zu gefährlichen Streiks, so daß 1981 der Ausnahmezustand verhängt werden muß; in Rumänien verstärkt der Inlandsgeheimdienst Securitate seine Aktivitäten gegen Regimegegner, gleiches gilt für die Tschechoslowakei. Der ganze Ostblock ist von einer Nervosität erfaßt, die überall zu einer verstärkten Kontrolle durch den "großen Bruder" in Moskau führt, gerade bei unsicheren Kantonisten, wie es Ungarn im roten Imperium war.

Zum Beispiel waren alle Telefonzentralen von sowjetischen Agenten besetzt, und um Budapest hatte man einen dichten Ring sowjetischer Kasernen gezogen, um einen neuen Aufstand wie 1956 schnell und effektiv unterbinden zu können. Und in dieser Zeit soll Genosse "D-209" sowjetische Aktionen behindert haben, obwohl er erst seit 1977 im Geschäft war - vom Anfänger zum Vollprofi in wenigen Monaten, eine unglaubliche Karriere.

Aber noch etwas macht stutzig: Während Anfang der siebziger Jahre, bei einem ersten Versuch Ungarns, dem IWF beizutreten, die Sowjetunion tatsächlich ein Interesse hatte, diesen Schritt zu verhindern (und ihn auch verhinderte), war die Lage Anfang der achtziger Jahre gänzlich anders. Die Sowjets brauchten nicht nur dringend harte Dollars, um den sich abzeichnenden Kollaps des Systems aufzuhalten, sie wollten auch an auf der berüchtigten "Cocom-Liste" verzeichneten Gerätschaften rankommen. Für beides schien eine Annnäherung Ungarns an den Westen wie geschaffen. Daß der Westen selbst ein Interesse hatte, den Ostblock zu destabilisieren, zum Beispiel durch besondere Verträge zu einem seiner Mitglieder, liegt auf der Hand; außerdem hatten maßgebliche Finanzkreise nichts dagegen, auch mit Krediten an eine Volksrepublik gute Geschäfte zu machen - Geld stinkt bekanntlich nicht. Vor diesem Hintergrund hätte Genosse "D-209" in der Zeit zwischen 1977 und 1982 die Aufgabe gehabt, in enger Abstimmung mit der - und nicht gegen die - Sowjetunion Ungarns Beitritt zum IWF und Weltbank zu decken.

Zwar gibt es noch keine erschöpfende wirtschaftsgeschichtliche Publikation, die Ungarns Weg in die Schuldenfalle aufzeigt, aber fest steht, daß von den Milliardenkrediten, die nach dem IWF Beitritt 1982 in die "lustigste Baracke des Kommunismus" flossen, kaum etwas der eigenen Volkswirtschaft zugute kam. Nach kolportierten Berichten aus der Wendezeit wanderte ein Großteil des Geldes in schwarzen Koffern nach Moskau, der Rest versickerte in einem Sumpf von Korruption und bürokratischer Ineffizienz. Zurück blieb die drückende, über 20 Milliarden US-Dollar schwere Schuldenlast, unter der das kleine Land an der Donau noch heute ächzt. Vor diesem Hintergrund hätte Ministerpräsident Medgyessy seine "alte Meisterschaft" nicht zum Wohle seines Volkes eingesetzt, wie er nicht müde wird zu behaupten, sondern im Gegenteil, er hätte sich nahtlos eingepaßt in die Ahnengalerie linker Regierungschefs, für die fremde Interessen immer mehr bedeuteten, als der Dienst an der eigenen Nation.

Aus welchen Kreisen die Medgyessy-Dokumente der ungarischen Tageszeitung Magyar Nemzet zugespielt wurden, ist noch nicht ganz klar. Beobachter vermuten, daß es sich eventuell um einen Racheakt innerhalb der Linken handelt, da die linksextremistischen Kreise bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt wurden. Denn der starke Mann in der Regierung ist der Außenminister und sozialistische Parteichef László Kovács (63), ebenfalls bewährter Kader aus der Ära der kommunistischen Diktatur, dem man weitere Ambitionen nachsagt. Bei einem erzwungenen Rücktritt Medgyessys wäre Kovács der aussichtsreichste Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten.

Der kleine Koalitionspartner der Sozialisten, der linksliberale Bund der Freidemokraten (SZDSZ), einst im Milieu oppositioneller Bürgerbewegungen gegründet, zeigte sich im ersten Augenblick der Enthüllung verunsichert. 17 Abgeordnete der 20köpfigen Fraktion wollten Medgyessy sogar das Vertrauen entziehen - aber nach einer Aussprache erklärte Fraktionschef Gábor Kuncze, der SZDSZ stehe weiterhin unerschütterlich zur Koalition. Eine erste Regierungskrise ist damit zunächst vom Tisch, auch wenn zahlreiche Bürger ihren Unmut über "den Spitzel" öffentlich bekunden.

Fototext: Péter Medgyessy (59): Bis 1989 war er Mitglied der Arbeiterpartei, offiziell zwischen 1977 und 1982 bei der Spionageabwehr tätig


 
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