© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Heimat von Tschechen und Deutschen
Das Sudetendeutsche Archiv gibt eine umfassende Geschichte Böhmens und Mährens von 1848 bis 1946 heraus
Ekkehard Schultz

Oftmals werden in der aktuellen Bewertung der Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 und der Diskussion um die Benes-Dekrete die langjährigen historischen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen auf die Betrachtung des Münchener Abkommens von 1938, die militärische Besetzung der "Rest-Tschechoslowakei" im März 1939 und die anschließende deutsche Protektoratsherrschaft bis zum Kriegsende reduziert. Dabei stellen diese Ereignisse lediglich Schlüsselpunkte dar, die nur die Endphase des gemeinsamen Weges im böhmisch-mährischen Raum markieren. Dieser Phase war wiederum ein harter Nationalitätenkonflikt vorausgegangen, dessen Wurzeln insbesondere auf die Mitte des 19. Jahrhunderts verweisen.

Deshalb ist es um so begrüßenswerter, wenn - wie jetzt durch das Sudetendeutsche Archiv - eine Quellensammlung vorliegt, die sich mit der Zeit zwischen 1848 und 1938 befaßt. Anhand wichtiger Reden und Schriften von Autoren des gesamten politischen Spektrums beider Seiten kann sich der Leser eine gute zeitgenössische Perspektive verschaffen. Ergänzt wird die zweisprachig - deutsch und tschechisch - angelegte Sammlung mit zeitgenössischem Kartenmaterial, das die jeweils aktuellen politischen Optionen verdeutlicht. Um das Phänomen der Vertreibung in eine internationale Perspektive einzuordnenn, bindet das chronologisch geordnete Werk auch andere Fälle von Vertreibung und Massenausweisung ein, so zum Beispiel die der Armenier in der Türkei während des Ersten Weltkrieges oder den "Bevölkerungstransfer" zwischen Griechenland und der Türkei nach der Lausanner Konferenz von 1923.

Die Dokumentation belegt, daß das deutsch-tschechische Verhältnis in den letzten hundertfünfzig Jahren längst nicht so harmonisch war, wie heutige "Versöhnungsschriften" annehmen. Im Zeitalter des aufkommenden Nationalismus in Österreich-Ungarn wurden ständig geeignete historische Abschnitte selektiv herangezogen, um die eigene nationale Position historisch zu legitimieren. Beispielsweise wurde oftmals die von tschechischen Historikern geprägte Lehre in den Dienst der Politik gestellt, nach der den Deutschen lediglich eine Rolle als Kolonisten zukommt, die nur zu einem Gästestatus auf böhmischer Erde berechtigt. Damit wurde nach 1918 auch die Verdrängung deutscher Amts- und Mandatsträger auf lokaler Ebene gerechtfertigt. Andererseits trug auf deutscher Seite ein verbreiteter Antislawismus mit gleichzeitiger unkritischer Verehrung des Habsburgerreiches zur Unterschätzung der politischen, kulturellen und ökonomischen Fähigkeiten der Tschechen bei. Eine mangelnde Bereitschaft der Krone, sich diesen Problemen zu stellen, entlud sich in radikalen rhetorischen Gesten, wie denen des Führers der "Alldeutschen" Georg Ritter von Schönerers, die bereits im Vorfeld jede Kommunikation zwischen Tschechen und Deutschen erstickten. Auf diesem Boden gediehen Säuberungs- und Vertreibungspläne, deren offene Verkündigung auf parlamentarischer Ebene und in der Presse bereits seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer häufiger erfolgte. Im Gefüge der gegenseitigen nationalen Anstachelung entwickelten die zunächst nur von einer Minderheit vertretenen irredentistischen Positionen immer stärkeren Einfluß auch auf liberalere Kräfte.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine große Furcht vor dem Verlust der jeweiligen Machtposition Konjunktur. Den deutschnational geprägten Parteien bereitete die zunehmende Einwanderung tschechischer Arbeiter in das deutsche Siedlungsgebiet und ihre höhere Natalität Sorgen. Als Beispiele für eine unheilvolle Entwicklung verwiesen sie gerne auf den Verlust deutscher Bevölkerungsmehrheiten in den größeren Städten des Landes wie Budweis, Pilsen oder Olmütz. Auf der anderen Seite gab es auf tschechischer Seite auch noch nach der Staatsgründung beharrliche Ängste vor einer "Germanisierung" des gesamten Landes durch die Einflüsse der deutschsprachigen Nachbarn. Daraus resultierten die eiligen Versuche Prags nach 1918, durch gezielte staatliche Maßnahmen das "sudetendeutsche Problem" durch eine elementare Schwächung des deutschen Bevölkerungsanteils zu lösen. Mit allen Mitteln sollte jedoch die Spaltung des Landes verhindert werden, die in dem Wunsch nach einer eigenen deutsch-böhmischen Regierung und einem rechtlichen Anschluß von Landesteilen an Deutschland bzw. Österreich erblickt wurde. Eine solche Lösung des Konfliktes war für die Mehrzahl der tschechischen Politiker undenkbar, da sie den neuen Staat ohne die deutsch besiedelten Gebiete nicht für lebensfähig hielten. Zur Verdeutlichung ihrer Ansprüche hatte die tschechische Delegation bei den Friedensverhandlungen zu Saint Germain in den sogenannten Denkschriften die Ententemächte über die wahre Größe der deutschen Volksgruppe im neuen Staat bewußt getäuscht.

Dabei stellten die Deutschen in Böhmen und Mähren in historischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht keine homogene Volksgruppe dar. Zwar verfügten sie über mehrere nahezu geschlossene Siedlungsgebiete. Doch oft war ihre Anbindung an die deutschen bzw. österreichischen Nachbarn sehr ausgeprägt. Dagegen waren ihre Beziehungen zu anderen Deutschen im böhmischen Raum wegen erheblicher sprachlicher, kultureller und politischer Unterschiede nur wenig entwickelt. Eine soziale und mentale Trennlinie verlief nicht nur zwischen den auf Sprachinseln lebenden deutschen Volksgruppen, wie etwa in Iglau, sondern vor allem zwischen der bäuerlichen Bevölkerung im Riesen- und Erzgebirge und den deutschen Wirtschafts- und Bildungseliten in Prag.

Dadurch konnte zumindest bis 1918 von einer gemeinsamen Interessenwahrnehmung kaum die Rede sein. Erst nach der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg konnte sich zwischen den verschiedenen deutschen Volksgruppen in Böhmen und Mähren ein gemeinsames Bewußtsein bilden - bezeichnenderweise zu einer Zeit, in der die Deutschen in der ungeliebten tschechoslowakischen Gründung nur noch eine Minderheit darstellten. Die aus dem Vorfeld stammenden Spannungen und das mangelnde Vertrauen in die neue tschechische Regierung, die sich nach 1918 als Siegermacht auf Seiten der Entente verstand, trugen dazu bei, daß sich der junge tschechoslowakische Staat rasch mit einer massiven Unzufriedenheit der Deutschböhmen konfrontiert sah. Im März 1919 hatte die tschechische Polizei Demonstrationen für die Realisierung des von Wilson proklamierten Selbstbestimmungsrechtes für das Sudetenland auf brutale Weise niedergeschlagen, wobei zahlreiche Tote beklagt wurden. Zudem diente die Benachteiligung deutscher Bürger im wirtschaftlichen Verkehr, die politische Unsensibilität der in das deutsche Gebiet entsandten tschechischen Amtsträger und ihrer Behörden sowie die Ignorierung von Autonomiewünschen nicht der Integration der Sudetendeutschen in den neuen Staat. Die daraus resultierenden Konflikte wurden auch dadurch nicht gemildert, daß bei allen offensichtlichen Schwächen der tschechoslowakische Staat zweifellos den Charakter einer Demokratie gehabt habe, worauf in der aktuellen Literatur häufig hingewiesen wird. Vielmehr belegt die Arbeit des Sudetendeutschen Archivs, daß die zunehmende Radikalisierung der deutschen Bevölkerung seit Beginn der dreißiger Jahre kein Zufallsprodukt war oder lediglich vom Ausland geschickt gesteuert wurde. Eher ist das Gegenteil der Fall. So gingen selbst die radikalen deutschen Parteien - Deutsche Nationalpartei und von Ausnahmen abgesehen auch die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei - bis zu ihrem Verbot von 1933 und die spätere Sudetendeutschen Partei zumindest bis Anfang 1937 einen vom nationalsozialistischen Deutschland weitestgehend unabhängigen Weg. Erst dann ist auch die außenpolitische Handschrift der NSDAP spürbar, die zu den Ereignissen von 1938/39 beitrug. Wie die Verfasser gleichfalls zeigen, orientierte sich Berlin dabei weniger an den realen Wünschen der Sudetendeutschen als an politisch-militärstrategischen Erwägungen eines deutschen Revisionismus der Pariser Vorortverträge.

Freilich gab es selbst in Phasen härtester Konfrontation zwischen beiden Volksgruppen immer auch warnende Stimmen, die eine Verschärfung der Konflikte befürchteten und den Willen zur Entspannung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten. Zu ihnen gehörten der tschechische Hochschullehrer Emanuel Radl oder der deutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch. Sie kritisierten das engstirnige Verhalten radikaler Kräfte beider Seiten und versuchten durch die Aufdeckung historischer Mythen festgefahrene Positionen aufzulösen, scheiterten aber nicht zuletzt daran, daß die Positionen der Parteien häufig viel zu verhärtet waren, um durch solche Widerlegungen erschüttert zu werden.

Die umfangreiche Dokumentesammlung verlangte trotz aller chronologischen Ausführlichkeit eine Konzentration auf Hauptschwerpunkte. Jene liegen bei diesem Werk auf den Ereignissen von 1848/49, dem Krisenjahr 1897 innerhalb des k.u.k.-Staates, den Jahren der Konstituierung des tschechoslowakischen Staates 1918/19 sowie seiner Auflösung 1938/39. Positiv ist die ähnlich starke Gewichtung der Herrschaftsphase des österreichischen Kaiserhauses in Böhmen (bis 1918) und die Zeit des tschechischen Staatswesens. So sind auch Vergleiche zwischen der politischen Kultur der Deutschen und Tschechen in zwei sehr verschiedenen Staatssystemen möglich. Die vorgestellte Fleißarbeit bietet eine hervorragende Basis zur sudetendeutschen bzw. tschechischen Frage und soll Ende 2003 durch einen Folgeband in gleicher Form ergänzt werden.

Roland Hoffmann, Alois Harasko (Hrsg:): Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Teil 1. Dokumentation zu Ursachen, Planung und Realisierung einer "ethnischen Säuberung" in der Mitte Europas 1848-1945/46, Sudetendeutsches Archiv, München 2001, 944 Seiten, 76 Euro

 

Slawenkongreß 1848 auf dem Prager Wenzelsplatz: Symbole deutsch-tschechischer Disharmonien


 
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