© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Masuren - Volk und Land an der Grenze
Andreas Kosserts Versuch einer Annäherung an Ostpreußens vergessenen Süden
Matthias Bäkermann

Eine Buchbesprechung darf man auch einmal mit dem Lob des Verlages beginnen. Ja, man muß damit anheben, wenn einem ein Werk wie Andreas Kosserts Geschichte Masurens in die Hände fällt. Der Verlag Wolf Jobst Siedlers, der sich seit den achtziger Jahren große Verdienste um die historiographische Vergegenwärtigung ostdeutscher, also jenseits von Oder und Neisse angesiedelter preußisch-deutscher Geschichte erworben hat, erinnert an "Ostpreußens vergessenen Süden" mit einem mustergültig ausgestatteten, reich illustrierten, lesefreundlich gesetzten Text, mit einem Buch, das "edel" zu nennen nur das wohl jedem Rezensenten im Falle Siedlers sich aufdrängende Gefühl für Untertreibung verbietet.

Ob der Inhalt des so mustergültig betreuten Werkes den Aufwand rechtfertigt, steht freilich auf einem anderen Blatt. Dies zu beurteilen, hängt nicht zuletzt von den Erwartungen des Lesers ab. Wer sich einen im besten Sinne populär-eingängigen Überblick zur Geschichte Masurens verschaffen möchte, der ist mit Kosserts tour d'horizon, die für die Zeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert weitgehend die bislang bekannte, dem historischen Laien aber in der Regel schwer zugängliche Forschungsliteratur referiert und paraphrasiert, gut bedient. Auch der kleine Kreis der Fachkollegen, der sich auf Kosserts Kenntnisstand befindet, wird allenfalls in Detailfragen remonstrieren. In wirklich gefährliches Fahrwasser gerät der junge Berliner Historiker des Jahrgangs 1970, der hier dank Siedler seine Dissertation einem breitem Publikum vorstellen darf, erst, wenn er Masurens Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert behandelt.

Kosserts Credo, das ihm für diese Variante erweiterter Zeitgeschichte zur Richtschnur wird, findet sich in einer Vorbemerkung zur Bibliographie: er wolle sich von der Last nationaler Hypotheken befreien, also weder eine deutsch- noch polnisch-nationale Geschichte Masurens schreiben, sondern sich den "wirklichen Forschungsfeldern" zuwenden. Um es kurz zu machen: Herausgekommen ist eine tendenziell polonophile, streckenweise sich wie eine Bewerbung für das Deutsche Historische Institut in Warschau (wo Kossert nach der Promotion dann tatsächlich untergekommen ist) lesende, am Ideal der fingierten "multikulturellen" Identität Ostpreußens orientierte Regionalgeschichte.

Fortwährend hantiert Kossert mit dem Gespenst des deutschen Nationalismus, Chauvinismus und völkischen Rassismus, das spätestens seit Bismarcks Zeiten das Verhältnis der ostpreußischen Eliten zur ökonomisch weitgehend deklassierten polnischen Minderheit im armen "Land der tausend Seen" zwischen Soldau und Marggrabowa (Treuburg) bestimmt habe. Daß die Masuren ethnische Polen waren, daß ihre Umgangssprache, allen Assimilationsschüben zum Trotz, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein polnisch war, gehörte zu den Eigenarten dieser Grenzregion, denen Kosserts Darstellung in sehr prononcierter Form Kontur verleiht. Aus diesem nach 1945 von der in ihrer ideologischen Wagenburg verschanzten Landsmannschaft Ostpreußen beharrlich unterdrückten Tatbestand, daß es in Masuren eine polnischsprachige, sich allerdings mit der deutschen Kultur identifizierende, von den polnischen "Brüdern" durch das protestantische Bekenntnis klar geschiedene Bevölkerung gegeben hat, speist sich der "aufklärerische" Gestus des Verfassers, der ihn gegen die "Germanisierer" in Königsberg und Berlin Stellung beziehen läßt. Dabei verrennt er sich dann in groteske Verzeichnungen der historisch-politischen Konstellationen der ostpreußischen Provinz zwischen 1871 und 1945. Denn auch durch Kossert wird die falsche Behauptung nicht richtiger, "Ostpreußens Führungsriege" habe der Weimarer Verfassung in toto "feindselig" gegenübergestanden. Hier hätte ihn schon stutzig machen müssen, daß mit Ernst Siehr ein Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei zehn Jahre lang den höchsten staatlichen Posten, den Oberpräsidenten der Provinz, stellte. Nicht weniger abwegig ist dann Kosserts Ansicht, der in Versailles verordnete Abstimmungskampf in Ostpreußen sei im Frühjahr 1920 auch deshalb für Deutschland und gegen Polen entschieden worden, weil Siehrs Vorgänger, Oberpräsident Batocki, die Wählerschaft mit Alkohol geködert habe. Adolf von Batocki war der letzte königlich-preußische Oberpräsident, der 1919 aus dem Amt schied und zunächst durch den Sozialdemokraten August Winnig (1878 - 1956) ersetzt worden war. Als der Abstimmungskampf tobte, hielt Winnigs Nachfolger Albert Borowski (1876 - 1945), ein der ostpreußischen Arbeiterbewegung entstammender Sozialdemokrat, kurzzeitig die Geschicke der vom Reich durch den "Korridor" getrennten Grenzprovinz in den Händen. Noch bizarrer nehmen sich Kosserts Ausführungen zum deutsch-polnischen "Volkstumskampf" in den zwanziger Jahren aus. Für ihn stehen die Aufforderungen an jene Masuren, die 1920 für Polen stimmten, doch gefälligst auch in das Land ihrer Wahl abzuwandern, auf einer Stufe mit der Unterdrückung der deutschen Minderheit in Polen. Diese "privaten" und letztlich unverbindlichen Zumutungen, die kaum einen Masuren zum Ortswechsel veranlaßten, werden also von Kossert mit jener sofort 1919 einsetzenden, brutalen, staatlich sanktionierten, vom Ziel der ethnischen Säuberung Westpreußens und Pommerellens diktierten, administrativ gelenkten Vertreibung von fast einer Million Deutschen gleichgesetzt.

Keine Frage, daß durch solche Muster volkspädagogischer Parteilichkeit, denen sich für die Geschichte der Vertreibung noch die Phrase zugesellt, die Masuren seien 1945 "die Ersten, die für die deutsche Schuld bezahlten", der Gesamteindruck empfindlich leidet. Überhaupt wirkt die Darstellung der masurischen Geschichte nach 1918 auffällig kursorisch und schablonisierend, obgleich Kossert immerhin die Kraft aufbringt, jenen zentralen, von ihm herausgearbeiteten Widerspruch nicht flink zu planieren, wonach die Nationalsozialisten einerseits die "eigentlichen Totengräber der masurischen Kultur" wurden, andererseits die slawophobe NSDAP schon vor 1933 ihren "treuesten Anhänger" ausgerechnet unter den polnischsprachigen Masuren fand (mit Wahlergebnissen in Lyck, Neidenburg und Johannisburg, die 1932 um die 70 Prozent Zustimmung signalisierten!).

Wie ein Korrektiv zu den zahllosen Verzerrungen und von aktualisierend-politischen Wertungen durchsetzten zeithistorischen Kapiteln wirkt Kosserts kritischer Epilog zum Schicksal der Masuren nach 1945. Hier geizt er nicht mit Verdikten, die den polnischen Chauvinismus verurteilen, der, in den fünfziger Jahren beginnend, zum Exodus der 1945 nicht vor der Roten Armee geflohenen oder wieder zurückgekehrten "autochthonen" Bewohner führte. In der Ära der Brandtschen Ostpolitik können die Warschauer Kommunisten, nicht unwesentlich unterstützt vom scharf nationalistischen katholischen Klerus, dann endlich einmal einen Plan erfüllen: bis 1989 reisten knapp 60.000 Masuren und Ermländer in den Westen aus. Bundesdeutsche Heimwehtouristen erlebten danach nur noch ein "Masuren ohne Masuren", einen historisch über Jahrhunderte gewachsenen Kulturraum ohne seine angestammten Bewohner. Ob dieser Kahlschlag dadurch kompensiert wird, daß, wie Kossert abschließend hofft, polnische Historiker die "multiethnischen Traditionen" Masurens entdecken und damit der Grenzregion zu einer Identität verhelfen, die ihr vom deutschen wie vom polnischen Nationalismus stets verwehrt wurde, darf bezweifelt werden.

 

Andreas Kossert: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden. Siedler Verlag, Berlin 2001, 432 Seiten, Abbildungen, 28 Euro


 
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