© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Pankraz,
L. Wittgenstein und die Weltmeisterschaft

Ein guter Freund, sprachbegabter Fußballfan, kehrte sichtbar entnervt von der Weltmeisterschaft aus Fernost zurück. Privat sei es eine Reise der ewigen Mißverständnisse gewesen, stöhnte er. Nichts hätten die Schlitzaugen richtig verstanden, und nichts habe er richtig verstanden. Die Sprachen seien eben allzu verschieden und damit auch die Mentalitäten.

Aber das Mißverständnis beginnt doch schon in der eigenen Sprache, entgegnete Pankraz. Sprache, hat Ludwig Wittgenstein als erster erkannt, ist immer Privatsprache; auch innerhalb der eigenen, uns genetisch und durch die ursprüngliche Sozialisation zugewachsenen Muttersprache versteht jeder Sprachteilnehmer unter den umlaufenden Wörtern etwas anderes, so daß Sprechen überhaupt Mißverständnis ist, wir nie sicher sein können, ob der andere auch nur annähernd das meint, was ich meine, wenn ich dieselben Wörter gebrauche. Stets sind zusätzliche Erklärungen notwendig oder das Zeigen auf etwas oder gemeinsame Aktionen, und selbst dann bleiben Reste vom Fremdheit und Einsamkeit.

Insofern ist das Übersetzen aus einer Sprache in die andere nur ein Sonderfall der sprachlichen Kommunikation. Sprache und Mentalität, erinnerndes Dasein, sind nicht identisch, so wenig wie Sprache und die mit ihr bezeichneten Sachverhalte identisch sind. Wir Menschen haben sehr viel mehr Gefühle und Erfahrungen gemeinsam als Wörter. Hätte er, der Freund, sich mehr auf sein Gefühl als auf seine Sprachkünste verlassen, wäre er besser gefahren.

Wir brauchen nicht zu fürchten, daß etwa die Chinesen, weil sie eine sogenannte "isolierende", nämlich flexionslose Sprache haben und vieles mit Tonhöhe ausdrücken, was wir eben mit Flexion (Deklination oder Konjugation) ausdrücken, - das also die Chinesen deshalb grundsätzlich "anders" fühlen und denken als wir, auch wenn es eine große europäische Denkschule gibt, die genau dies behauptet. Man sollte sich da nicht irre machen lassen.

Die Chinesen, sagt die bewußte Denkschule, denken "ganzheitlich", weil ihre Sprache sie angeblich dazu zwingt. Wenn wir Indogermanen, argumentiert etwa Joseph Needham, in der Ferne ein Haus sehen, an das wir nicht ganz herankommen und es also auch nicht betreten können, dann machen wir über dieses Haus eine Hypothese, die auf unseren Beobachtungen aus der Ferne beruht; je detaillierter die Beobachtungen sind, desto besser mag das Ergebnis sein - aber es kann auch ganz falsch sein. Dagegen wird ein Chinese, so Needham, so schnell wie möglich um das ganze Haus herumgehen, in dem nächsten Radius, der ihm zur Verfügung steht, und zwar nicht, um sich wie der Abendländer eine Hypothese über das Haus zu machen, sondern um das Haus in seiner Ganzheit "zu erleben".

Das mag nun tatsächlich so sein, nur ist diese theorieskeptische, lebenspraktische Orientierung nie und nimmer ein Zwang, der aus der Sprache entsteht, sondern es ist genau umgekehrt: Weil die Chinesen durch diese oder jene genetische Anlage oder durch diese oder jene historische Erfahrung primär auf das Erleben von Ganzheiten aus sind, hat sich auch ihre Sprache halbwegs danach gebildet.

Jeder Fremde, der sich dieser Sprache auch nur ganz zögerlich und ephemer annähert, merkt natürlich sofort, daß sie grundverschieden von den europäischen Sprachen ist, auch den abgelegensten wie etwa Baskisch. Sie ist, wie schon gesagt, flexionslos, die Wörter sind nicht in Substantiv, Verb, Adjektiv, Adverb aufgeteilt, ja, diese Begriffe "Subjekt", "Prädikat", "Objekt", also das Strukturgerüst einer bewußten Grammatik, wurden überhaupt erst geformt, nachdem sich die Chinesen seit dem siebzehnten Jahrhundert mit europäischen Grammatiken bekannt gemacht hatten. Im Prinzip kann bei ihnen jedes Wort zu jeder grammatischen Kategorie gehören, und kein Wort ändert sich je. Also das Wort "Osten" kann auch, ohne jegliche Veränderung, "östlich" bedeuten oder "ostwärts" oder "nach Osten gehen" usw.

Ergibt sich daraus aber "Unlogik" oder zumindest eine gänzlich "andere" Logik, die von Needham mit Herablassung gelegentlich auch "magisch" genannt wird? Davon kann im Ernst nicht die Rede sein. "Magisches" Denken liegt allen Sprachen, nicht nur der chinesischen, sondern beispielsweise auch unseren indogermanischen, zugrunde. Es läßt die Kausalität aus dem Geist, aus dem Willen entstehen. Eine Sache passiert, weil ein Geist will, daß sie passiert. Aber genau diese Sehweise, die Einführung des Willens in die Natur, war der entscheidende Schritt zur Logik.

Man fragte nun nicht mehr: Wie passiert dies und das?, sondern man fragte: Warum passiert dies und das? Man verdoppelte die Welt, man etablierte eine Hinterwelt hinter der Welt der Sinne und erklärte sie zur "Ursache" der Sinnenwelt.

Diese logische Leistung ist, wie schon 1930 der Ethnologe B. Malinowski höchst überzeugend, mit überwältigend reichhaltigem Material aus diversen Feldforschungen, dargetan hat, allen Menschen gemeinsam, auch allen sogenannten primitiven Naturvölkern und um so mehr natürlich den hochentwickelten Chinesen. Ihre Sprache folgt vielleicht, ihrer immanenten Grammatik nach, "ganzheitlichen" Vorgaben, doch deshalb denken die, die sie benutzen, noch lange nicht "unlogisch" in jenem populären Sinne, der eine Verständigung unsererseits mit ihnen unmöglich machte.

Übrigens merkte Pankraz schnell, daß der Freund, trotz aller sprachlichen Mißverständnisse, recht gut zurande gekommen war. Er hatte die Reise und besonders natürlich die Spiele genossen. Gerade die fernöstliche Fußball-Weltmeisterschaft hat wieder einmal gezeigt: Notfalls geht es gänzlich ohne Sprache, begnügt man sich, im Stile Wittgensteins, mit gemeinsamem Handeln (das Spiel der Mannschaften) und bedeutsamem Zeigen (das Gefuchtel der Schiedsrichter). Regeln muß es freilich geben. Am Anfang jedes Spiels stehen Regeln.


 
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