© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Familie ist, wo man sich wohlfühlt
Parteien I: In der Familienpolitik haben sich CDU/CSU weitgehend den Positionen der SPD angenähert
Paul Rosen

Politiker, so eine heute unter Marketingstrategen weit verbreitete Annahme, müssen so windschnittig sein, daß sie wie "Schumis" Rennwagen als erster durchs Ziel gehen, das heißt, die meisten Stimmen holen. Staatsmänner wie Konrad Adenauer, Kurt Schumacher oder Theodor Heuß würden heute schon bei der Nominierung zum Kreisparteitag scheitern. Der zeitgenössische Politiker ist unkonventionell in dem Sinne, daß er seine Meinung bereits gewechselt hat, ehe die sogenannte öffentliche Meinung umschwenkt. Auch Edmund Stoiber wird zu einem solchen Fall. Mit der Berufung der aus den neuen Länder stammenden, schwangeren und unverheirateten CDU-Abgeordneten Katherina Reiche in sein Kompetenzteam hat der Bayer hinreichend demonstriert, wie wenig die Bekenntnisse der Union zur Familie noch wert sind.

Schon das "Regierungsprogramm" der CDU/CSU spricht Bände: "Für CDU und CSU ist Familie überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung tragen." Eigenartigerweise kommt die "Ehe" als Institution in dem Familienkapitel des Regierungsprogrammes gar nicht mehr vor. "Für uns", so heißt es dort, "ist und bleibt die Familie auch in Zukunft die wichtigste Form des Zusammenlebens. Der Zusammenhalt in den Familien ist die Grundlage für die Solidarität in unserer Gesellschaft." Doch schon einen Abschnitt weiter erfolgt etwas, was früher als Anerkennung der Realitäten bezeichnet wurde: "Die Familie ist in unserer Zeit besonders stark vom Wandel der Lebensstile betroffen: Rückläufig ist die Zahl der Eheschließungen. Gewachsen ist die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften." Fast jedem fünften Kind fehle heute ein Elternteil, heißt es in dem Programm. Die schiere Verzweiflung vieler Menschen, die gescheiterte Ehen hinter sich haben und trotzdem wieder nach dieser Form des Zusammenlebens streben, weil sie Geborgenheit, Zusammenhalt und wirkliche Solidarität bietet, wird erst gar nicht angesprochen.

Statt dessen präsentiert Stoiber Reiche, gewissermaßen als Beleg und Ausdruck des sogenannten Wertewandels, dem sich offenbar auch die Union nicht verschließen möchte. Daß Katherina Reiche nicht nur ihre persönliche Lebensplanung so anders gestaltet als die Mehrheit der Deutschen dies selbst will, war noch nicht alles. Auch in der Gentechnik überschreitet ihre persönliche Haltung die Grenzen, die ein konservatives Verständnis von den nutzbaren Möglichkeiten moderner Technik setzt. Das mag die Berufung der erst 28jährigen Politikerin in Stoibers Team noch befördert haben. Der Kandidat sieht sich jedenfalls in seinem Bemühen, möglichst unangreifbar zu sein, bestätigt. Die Werbung in der CDU-Zentrale in Berlin, Stoiber sei ein Mann mit Kanten, hat der Bayer selbst widerlegt. Sein PR-Manager Michael Spreng hat auch die letzte Kante im Profil des Bayern abgeschliffen.

Vielleicht wäre die Berufung der bislang ziemlich unbekannten Reiche gar nicht stark beachtet worden, wenn es nicht Unmut in der Bundestagsfraktion gegeben hätte. Dort sehen inzwischen viele Abgeordnete, besonders auch der CSU, durch die Berufung externer Kandidaten wie des Wirtschaftsfachmannes Lothar Späth ihre Felle nach einer gewonnenen Bundestagswahl wegschwimmen. Obwohl Stoiber, Angela Merkel und Friedrich Merz ständig davor warnen, das Fell des Bären nicht vor der Jagd, sprich vor der Wahl zu verteilen, toben diese Verteilungskämpfe bereits seit längerem. Bei der Frage, wer Familienminister in einer neuen Regierung werden könnte, sahen besonders die Frauen-Union-Funktionärinnen Maria Böhmer (CDU) und Maria Eichhorn (CSU) ihre Chancen sinken. Beide Politikerinnen glaubten, im Falle des Wahlsieges einMinisteramt erhalten zu können. Jetzt sehen sie sich, obwohl eine Berufung in das Kompetenzteam keinen Kabinetts-Automatismus bedeutet, maximal auf das Amt von Parlamentarischen Staatssekretärinnen reduziert. Dies war der eigentliche Hintergrund des in der Unionsfraktion losgetretenen Streits um Frau Reiche. Die vorgetragenen moralischen Bedenken waren zweitrangig. Zuviele Mitglieder der Fraktion leben selbst in gescheiterten Beziehungen oder haben solche hinter sich. Die persönliche Situation von Katherina Reiche ist diesen Politikern der Union weitgehend egal. Die seit Jahren von rot-grüner Seite geförderte Kritik an Ehe und Familie und die damit einhergehende weitgehende Gleichstellung sogenannter alternativer Lebensformen wie der eingetragenen Partnerschaft für Homosexuelle haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Haltung der beiden christlichen Parteien zu Ehe und Familie hat sich weitgehend der der SPD angenähert.

Dennoch war Stoiber zwischendurch wankelmütig. Noch bis kurz vor der offiziellen Präsentation hieß es, der Kandidat werde Reiche die Zuständigkeit für Familienpolitik entziehen und an CSU-Vize Horst Seehofer geben. Bei der Präsentation zeigte sich, daß nichts geändert worden war, sondern Reiche für Familienpolitik zuständig blieb. Fortan muß der Kandidat mit dem Vorwurf leben, nicht nur die falsche Wahl getroffen zu haben, sondern auch noch inkonsequent zu sein.

Auch mit der Katholischen Kirche bekam der Bayer Ärger. Der Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner erklärte, für eine "christliche" Partei sei Reiches Ernennung nicht hinnehmbar. Laut Meisner ist das Verhalten Stoibers für viele Christen "skandalös". Stoibers Berechnung, Christen würden ohnehin die Union wählen, könne sich wahltaktisch als schwerer Fehler erweisen. Wenn Stoiber meine, daß Reiches Berufung zeige, daß die Union kein rückwärtsgewandtes Familienbild habe, dann sei dies für Stoiber entlarvend, so der Kardinal. Denn demnach sei die christliche Eheauffassung in den Augen des Kandidaten rückwärtsgewandt, sagte Meisner, der der Union und insbesondere Stoiber vorwarf, das christliche Ehe- und Familienbild zu demontieren. Die Union solle besser das "C" aus dem Parteinamen streichen, empfahl der Kardinal.

Wahrscheinlich endet es wie immer. Als Helmut Kohl 1982 vor der Regierungsübernahme stand, forderte er angesichts der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Dekadenz die "geistig-moralische Wende". Sie kam und hatte 360 Grad. Die Geschichte wiederholt sich mit Stoiber.


 
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