© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Angriff auf Europa
Machtpolitik: Die USA führen einen psychologischen Krieg - an einem europäischen Selbstbewußtsein gibt es kein Interesse
Doris Neujahr

In der Wochenzeitung Die Zeit hat der amerikanische Journalist David Brooks, leitender Redakteur des Weekly Standard, Autor der New York Times, Washington Post und des New Yorker, einen neuen globalen Feind Amerikas ausgemacht: die "Bourgeoisophobie". Begonnen habe diese krankhafte Abneigung gegen das Bürgerliche um 1830, als französische Intellektuelle wie Flaubert und Stendhal - warum nicht auch Balzac? - ihrem ästhetisch begründeten Haß auf banausenhafte Händler, Kauf- und Geschäftsleute, die Pioniere des kapitalistischen Zeitalters, freien Lauf ließen. Dieses - wie Brooks meint - "offizielle" Grundgefühl der französischen "Intelligenzija" habe sich mittlerweile bis nach "Bagdad, Ramallah und Peking" verbreitet, es sei "das reaktionärste Glaubensbekenntnis unserer Zeit".

Die "Bourgeoisophobie" sei von den großen Glaubensbekenntnissen des 19. Jahrhunderts - zu denen Brooks auch den Marxismus, den Freudianismus und den Sozialdarwinismus zählt - das einzige, das noch heute gedeiht. "Nur sind es jetzt nicht bloß Künstler und Intellektuelle, genauso können es heute Terroristen oder Selbstmordattentäter sein." Diese aktuellen "Feinde der Bürgerlichkeit" verzehre "der glühende Wunsch, Amerika und Israel in den Staub zu zwingen". Dann fallen Worte wie "nihilistische Wut", "Haß", "Neid", es folgt der Verweis auf Spenglers Ruf nach dem "sozialistischen Herrenmenschen", und schon ist klar: "Das war der Pfad, der zu Mussolini, Hitler, Saddam Hussein und Bin Laden leitete."

Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die kulturnihilistische "Achse des Bösen" von Flaubert zu Bin Laden ist von US-Präsident Bush erkannt und als "moralische Herausforderung" angenommen worden. Das magische Datum "11. September" muß als Begründung genügen. Leider folgen die arabische Welt und Europa den USA nur zögerlich in diesen Kampf. Grund genug, ihnen die Leviten zu lesen.

Bereits der theoretische Ansatz ist lachhaft: Marxismus und Freudianismus sind wissenschaftliche Gedankengebäude, der Sozialdarwinismus bloß eine Karikatur davon, die konstatierte "Bourgeoisophobie" aber höchstens ein Affekt. Indem Brooks alles auf dieselbe Ebene stellt, macht er deutlich, daß es ihm um Verwirrung statt um Aufklärung geht. Hinter der Milchglasscheibe einer kruden Theoriebildung sollen die eigentlichen Absichten getarnt werden.

Eine Absicht ist die moralische Entschuldung der Aggressionspolitik Israels, das flugs zum Opfer der "Bourgeoisophoben" umgedeutet wird. Das ist gleich zweimal lachhaft, denn Israel, von Europa aus gesehen, erscheint keineswegs als Hort der Bürgerlichkeit, sondern als straff geführter Militärstaat, in dem zionistische Ayatollahs und fundamentalistische Siedler unter Berufung auf jahrtausendealte Bibeltexte alles unternehmen, die Palästinenser über den Jordan zu treiben, und in dem ein Mann als Regierungschef amtiert, der, wäre er Serbe, auf der Fahndungsliste für das Haager Kriegsverbrechertribunal stünde. Brooks gibt neben dem Bush-Trommler also auch noch den israelischen Propagandaoffizier ehrenhalber und führt vor, daß nicht nur Israel-Feinde, sondern auch Israel-Freunde zu Verschwörungstheorien neigen.

Es geht um einen politischen und ideologischen Konflikt

Den Begriff der "Bürgerlichkeit" definiert Brooks gar nicht erst, um so mißbräuchlicher kann er ihn benutzen. Nach seiner Beschreibung wäre der schmierige Ölbaron J. R. Ewing (aus der Kultserie "Dallas") nachgerade der Idealtyp des Bürgers. Doch so einfach geht es nicht. Der Sieg des "Bürgertums" im Zuge der französischen Revolution bedeutete, knapp gesagt, die Ablösung des Erb- durch einen Verdienstadel als ökonomisch und politisch dominierende Klasse. Diese Ablösung war begleitet vom Pathos der Demokratie und der Menschenrechte, das heißt, das Bürgertum erklärte sich zum Vertreter allgemeiner, ethisch-moralischer und geistig-kultureller Ansprüche. Gegen dieses Fortschritts- und Freiheitspathos hatten Balzac, Stendhal und Flaubert nichts einzuwenden, nur sahen sie, daß es, parallel zur immer größeren Akkumulation von Kapital, immer hohler klang. Egoismus und Doppelmoral des Adels wurden vom Bürgertum nicht etwa überwunden, sondern vulgarisiert, das Pathos bzw. das, was es an Idealen transportierte, verhunzt und verraten. Die beißende Kritik Flauberts war auch nicht versnobt-ästhetisch, sie entsprang der christlichen Ethik.

Diese "Bourgeoisophobie" würde heute in Europa kaum weniger Grund für seinen Abscheu finden als in den USA. Brooks behauptete Frontstellung: die "bürgerliche" USA gegen das "antibürgerliche" Europa (die arabische und übrige Welt soll außen vor bleiben), ist also barer Unsinn. Es geht um keinen moralischen, sondern um einen politischen und ideologischen Konflikt. Das gibt er selber indirekt zu, wenn er die Distanz Europas zu den USA damit erklärt, daß die Europäer nicht mehr wüßten, "wie es ist, imperiale Zuversicht zu spüren, kühne und sogar eschatologische Ziele zu haben".

Das trifft zu, aber anders, als Brooks glaubt. Die Handlungsschwäche Europas kommt nicht so sehr aus seinen dekadenten Genen, sondern aus seinem Erfahrungsvorsprung. Der Bedarf an "eschatologischen" Zielen ist hier nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und Kommunismus ein für allemal gedeckt. Europa befindet sich in einer fortgeschrittenen Phase postkolonialer und postimperialer Depression. Nach dem Gesetz vom Aufstieg und Fall der großen Mächte werden auch die USA dahin kommen. Ein bißchen geschichtsphilosophische Gelassenheit, und dem Autor wäre sein dichotomisches Weltbild wie von selbst zerfallen. Ihm wäre auch klar geworden, warum der 11. September für den Rest der Welt zwar ein riesiger Schock, aber kein quasi-religiöses Erweckungserlebnis war. Man hat in Europa, Asien und Afrika, anders als in den USA, einfach schon zuviele "11. September" erlebt. Das universelle Sendungsbewußtsein der USA beruht auf einem hohen Maß an Naivität und Unkenntnis.

Unter intellektuellem Gesichtspunkt ist Brooks Polemik belanglos. Trotzdem ist sie beachtenswert, weil sie einen Blick in die ideologische Asservatenkammer erlaubt, aus der die Weltmacht USA momentan ihre Überzeugungen schöpft. Brooks schreibt selbstgewiß: "Vielleicht werden nach dem 11. September mehr Amerikaner zu der Ansicht kommen, daß es richtig ist, so zu leben, wie wir leben, und so zu sein, wie wir sind." Man stelle sich vor, die übrige Welt nähme sich am Energieverbrauch der USA ein Beispiel. Die ökologische Katastrophe träfe eher heute als morgen ein. Brooks redet, ohne das zu erkennen, der planetarischen Barbarei das Wort.

An anderer Stelle demaskiert sich der vorgebliche Verteidiger des Bürgerlichen vollends als vorbürgerlicher Berserker: "Zum Temperament des ätherischen Bourgeoisophoben paßt die Diplomatie, denn sie ist formal, elitär, zivilisiert und vor allem komplex." Die Werte, die hier verhöhnt werden, sind essentiell bürgerlich. Brooks' Welt ist hingegen eindimensional: Saddam Hussein und Arafat müssen weg, notfalls gewaltsam, und die arabischen Staaten demokratisiert werden. Warum sind die USA dann nicht bei ihren korrupten arabischen Verbündeten längst in diesem Sinne tätig geworden? Weil eine Demokratie in Ägypten, Kuweit und anderswo nicht in ihrem strategischen Interesse liegt. Die Forderung nach Demokratie ausgerechnet an die traumatisierten Palästinenser soll lediglich Scharon einen Zeitgewinn verschaffen. "Demokratie", "Moral", "Bürgerlichkeit" sind für Bush und Brooks Vehikel einer Machtpolitik, in der egoistische US-Interessen und fundamentalistischer Furor sich gegenseitig befeuern.

Brooks' Kritik an der Aktionsschwäche Europas und seine Annahme, daß diese ganz wesentlich in einem beschädigten und depressiven Ego wurzele, hat indes einen rationalen Kern. Nicht zuletzt hindert diese politische, militärische und mentale Schwäche Europa daran, seine abweichenden Ansichten und Interessen gegenüber den USA mit Nachdruck zu vertreten. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann nicht darin liegen, den Sinn für Komplexität und vorhandene Skrupel nach US-Vorbild zu unterdrücken, das würde die amerikanische Suprematie nur noch steigern. Andererseits darf man sich auch nicht, wie bisher, durch sie beherrschen und bis hin zur Tatenlosigkeit erpressen lassen.

Strategisches Ziel ist die völlige Paralyse Europas

Spätestens an diesem Punkt fällt erstens auf, daß die Selbstzweifel von den USA bedarfsweise und vorsätzlich zu Schuldgefühlen hochgekocht werden. Die Ermahnungen von US-Politikern an Deutschland, nur ja die "Vergangenheitsbewältigung" fortzusetzen, die importierte Goldhagen-Debatte, Filme wie "Schindlers Liste" oder "Der Soldat James Ryan", die Schadensersatzklagen gegen deutsche Firmen oder die penetrante Negativberichterstattung in der US-Presse über einen hierzulande grassierenden "Neonazismus" (die von bestimmten Meinungsmachern in Deutschland anschließend begeistert aufgegriffen wird), sind als Bestandteile eines psychologischen Krieges, den die USA gegen Deutschland und Europa führen, zu bewerten und endlich auch zurückzuweisen.

Zweitens: Dieser Psychokrieg, in den sich auch der Zeit-Artikel nahtlos einfügt, zielt nicht auf Deutschland als solches - dazu ist es aus amerikanischer Perspektive viel zu klein -, sondern auf die europäische Zentralmacht und den Motor der europäischen Einigung. Strategisches Ziel ist die völlige Paralyse Europas. Kein einziges europäisches Land wird gegen den Koloß USA jemals ein ernstzunehmendes Gegengewicht bilden, ein geeintes Europa aber kann es sehr wohl. Aus dieser Perspektive wirken die innereuropäischen Interessenkonflikte und Eifersüchteleien geradezu kleinlich und vorgestrig. David Brooks Polemik gegen Europa muß von den Europäern in diesem Sinne als Alarmruf verstanden werden.


 
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