© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Vergangenheit, die nicht vergehen will
Peter Reichel über die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute
Wolfgang Saur

Hitler ist nicht tot, er lebt, und sein Schatten lauert über unserer Gegenwart. Die Nachdauer des Nationalsozialismus ist seine "zweite Geschichte". Sie übertrifft die erste zeitlich bei weitem, und ein Ende ist nicht abzusehen. Dies bedeutet nicht bloß die Universalisierung der NS-Erinnerung, sondern auch deren Intensivierung im strukturellen Sinn. Was sich abzeichnet, ist ein neuer Mythos, dessen monströse Fratze das dämonische Passepartout abgeben soll fürs Menschenrechtsprojekt der westlichen Welt.

Am Leitfaden des Schuld­paradigmas und im Medium moralischer Schematisierung nach Tätern und Opfern soll der entschwundene Weltsinn in der postindustriellen Gesellschaft "wiedereingespielt", der verlorene Gott zurückgeholt werden. 1945, der historische Nullpunkt, fungiert dabei als Kraftwerk, das Status, Ansprüche, Machtchancen sichert oder generiert, ein unermüdlich sprudelnder Quell für die Verteilungskämpfe der Gegenwart. Personen und Gruppen, Institutionen, Parteien und Staaten bedienen sich dieses "mythischen Fixpunktes" als eines symbolischen Bezugssystems, das politisch bestens funktioniert, nach innen wie nach außen. Dabei geht es stets um den moralisch korrupten Anderen: die "Externalisierung" des Bösen bedeutet zugleich eine ebenso narzistische wie einträgliche Bestätigung des eigenen "heroischen Selbst".

Dies funktioniert besonders bei den durch die Mythisierung des Nationalsozialismus und Sakralisierung des Holocaust in den Rang eines "weltgeschichtlichen Tätervolkes" aufgerückten Deutschen. Während das Establishment eine postnationale Identität simuliert und den Antigermanismus bedient, soll der dumpfbackige Rest "bewältigen". Wer das gesellschaftliche "Gewissen" innehat und von dort aus Geschichte und Gegenwart "tribunalisiert", hält einen höchst komfortablen Ort besetzt. Die überaus lebendige deutsche Schuldfrage hat dabei eine erstaunliche Metamorphose durchgemacht, so wurde aus der ersten Schuld das "kommunikative Fehlverhalten" der Nachgeborenen, die "zweite Schuld" (Giordano); diese weitet sich schließlich, horizontal und vertikal, zu "Netzen der Schuld" (Schlink) aus, die "ihre eigene Funktionsweise und Unentrinnbarkeit" haben.

Diese kollektive "Internalisierung" unserer Schuld oder "Haftung", man könnte sie auch "Charakterwäsche" (Schrenck-Notzing) nennen, hat sich vielfältig in der deutschen Nachkriegsgeschichte ausgestaltet. Peter Reichel, Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg, nennt schematisch vier Handlungsfelder, in denen sich die komplizierte und konfliktreiche Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe vollzog: die Geschichte seiner wissenschaftlichen Erforschung, seine ästhetische Verarbeitung in den Künsten, die Entwicklung einer öffentlichen Memorialkultur und die im engeren Sinn politisch-justizielle Auseinandersetzung.

Letztere bildet den Gegenstand von Reichels neuem Buch, nachdem er 1991 mit einer breit rezipierten Studie zur ästhetischen Physiognomie der NS-Zeit ("Der schöne Schein des Dritten Reiches") hervorgetreten war, um sich 1995 den "Wanderungen und Wandelungen" von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der BRD zu widmen ("Politik mit der Erinnerung - Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit"). Hatte er sich dort mit ausgewählten Orten, Denkmälern und Gedenktagen beschäftigt und dieses mit neueren Forschungserkenntnissen über Gedächtnis, Traditionsbildung, Politik in der modernen Gesellschaft auch theoretisch durchdrungen, stehen jetzt mehr institutionelle und staatspolitische Vorgänge im Zentrum.

Eine erschöpfende Phänomenologie der Nachwirkung Hitlers in der deutschen Gegenwart ist bis heute nicht geschrieben. Die ganze Bibliothek von Spezialliteratur zu diversen Einzelthemen findet jedoch im vorliegenden, faktenreichen Band eine recht gute Zusammenfassung und ersetzt damit die ältere Studie von Peter Steinbach von 1981: "Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945".

Reichels Monographie spannt einen weiten Bogen von den Nürnberger Prozessen (1945 - 1949) bis zur Zwangsarbeiterentschädigung (2000). Im Rahmen einer, vom Autor entwickelten siebengliedrigen Typologie von Reaktionsmustern bei politischem Systembruch, dokumentiert und analysiert er im deutschen Fall vor allem drei "Bewältigungsstrategien". Im Nachkriegsdeutschland waren dies die justizielle und bürokratische Bewältigung, sowie Entschädigung und Reparationen. Durch die Teilung nahmen diese Vorgänge freilich ganz verschiedene Gestalt an: Die beiden deutschen Staaten und Österreich haben sich angesichts der Erblast unterschiedlich positioniert. Interpretierte die Alpenrepublik den Anschluß als feindliche Intervention, "universalisierte" die DDR die Schuld durch ihre Faschismustheorie, welche das Problem als Aspekt der kapitalistischen Welt begriff und die eigene Staatsraison aus dem Kampf des sozialistischen Widerstands heraus begründete. Die junge BRD war somit, trotz demokratischer Legitimierung durch die antitotalitäre Allianz im Kalten Krieg, als Rechtsnachfolger des Reichs am unerbittlichsten mit der Vergangenheit konfrontiert.

Am Anfang (1945 - 1948) stand die Entnazifizierung (1945: Militärgesetz Nr.8 ff.). Eine Liste von 99 Kategorien umfaßte die Personengruppen, die von den Alliierten sofort entlassen wurden. Eine individuelle Prüfung bezweckte sodann der Fragebogen mit seinen 131 Fragen, durch Ernst von Salomon später als ironisches Epochenepos persifliert (1951). Problematisch blieb das Verfahren: bei den Deutschen waren die Spruchkammerverfahren unpopulär, da sie das traditionelle Strafrecht umkehrten und dem Angeklagten den Unschuldsbeweis zumuteten. Eine generelle Frage lautet überdies, inwieweit politisches Unrecht dieses Ausmaßes individualrechtlich aufgearbeitet werden kann. Modell waren die Nürnberger Prozesse, in denen bis 1949 183 Personen in 13 Verfahren vor dem Internationalen Militärtribunal angeklagt wurden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei der Hauptprozeß (20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946) gegen 24 prominente Angeklagte, der mit zwölf Todesstrafen und drei lebenslänglichen Haftstrafen endete.

Interessant liest sich die Dokumentation der frühen Schulddebatten, wie sie etwa Karl Jaspers schon im WS 1945/46 führte, die aber vom größten Teil der Deutschen abgelehnt wurden. Kriegsniederlage, Zerstörung, Vertreibung und materielles Elend hatten die Deutschen selbst zu Opfern gemacht, ein Kult um eigene Täterschaft konnte sie deshalb wenig locken. Dem trug auch die Politik Rechnung, noch weit entfernt, Auschwitz zur neuen Staatsraison zu erheben. Erklärte der Hamburger SPD-Bürgermeister Max Brauer, Hitler habe das deutsche Volk für seine "dämonischen Zwecke" mißbraucht, so bestätigte Adenauer seinen Landsleuten, daß die überwiegende Mehrheit "die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut" und "sich an ihnen nicht beteiligt" habe. Reichel bewertet dies als beispielhafte, "gleichsam staatsoffizielle, stark geschönte und integrationspolitisch motivierte Sicht", die innenpolitisch Aussöhnung und Stabilität als Voraussetzung für die "Rückgewinnung außenpolitischer Handlungsfähigkeit und internationaler Reputation" anstrebte. Vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation bestimmten Leitwerte wie Einheit, Versöhnung und eine weitherzige Solidarität die Aufbaujahre, auch im Ausland. Welch ein Kontrast zu den späteren achtziger und neunziger Jahren! Dazwischen liegt eine Ausweitung des Schuldverdachts und dessen scharfe Politisierung. Symbolisch hierfür eine frühe Polemik Carlo Schmids (1952) über Veit Harlan, dessen "Fall" ein eigenes Kapitel füllt: Es sei "eine Schande, daß die Machwerke dieses Mannes in Deutschland überhaupt gezeigt und besucht werden können, eines Mannes, der zumindest indirekt mit dazu beigetragen hat, die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Vergasungen von Auschwitz zu schaffen."

Als Katalysator wirkte die natürliche Generationenfolge. So wurden schließlich die Grünen, realpolitisches Fazit der Apo und neuer Faktor im Parteiensystem, ein Schrittmacher weiterer Aufarbeitungswellen. Das sollte sich zum Beispiel in puncto Entschädigungszahlungen zeigen. Hatte man etwa 1965 nach dem als "Schlußgesetz" verstandenen Bundesentschädigungsgesetz und angesichts diverser Schuldabkommen (Paris, London, Luxemburg), sowie Sonderfonds und Härteausgleichsregelungen geglaubt, eine materielle Bereinigung der NS-Erblast so weit als möglich geleistet zu haben, so enttäuschte die Folgezeit diese Hoffnung. Bilanzierte die Bundesregierung 1986 rückschauend die 40jährige Wiedergutmachung als "historisch einzigartige Leistung, die auch die Anerkennung der Verfolgtenverbände im In- und Ausland gefunden hat", so diskutierte zeitgleich das Europäische Parlament auf Initiative der Grünen erstmals die Zwangsarbeiterfrage, was eine neue Runde des Entschädigungspokers eröffnete. Zur Jahrtausendwende sollten sich die Entschädigungen des Bundes für ehemaliges NS-Unrecht schließlich auf etwa 160 Milliarden Mark belaufen.

Ein besonderes Thema ist mit der Rechtsprechung über Volksverhetzung gegeben. Der Paragraph 130 StGB wurde 1959 im zeitlichen Umfeld der Debatten um die Wiederbewaffnung, der Fritz-Fischer-Kontroverse, von Hakenkreuzschmierereien und Aktivitäten des SED-gelenkten "Ausschußes für deutsche Einheit" von der um Imageverlust besorgten Bundesregierung geschaffen. Der neue Straftatbestand ersetzte eine Strafrechtsnorm der Weimarer Republik: "Anreizung zum Klassenkampf". 1985 kam eine Ergänzung durch das Gesetz gegen die "Auschwitz-Lüge" (Paragraph 140 StGB), das 1994 eine weitere, berühmte Novellierung erhielt, die nun auch "Verharmlosung" unter Strafe stellte. Selbst der Autor, der die meisten Aufarbeitungsinitiativen wohlwollend kommentiert, erkennt hierin "eine bedenkliche Beschränkung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung".

Weitere Themenfelder sind die Verjährungsdebatten des Bundestags oder "Antisemitismus und politische Skandale", daneben werden minoritäre, aber akzeptable Positionen referiert, die sich nicht durchsetzen konnten, so das Plädoyer Eugen Kogons für das eigentlich grundplausible "Recht auf politischen Irrtum", ein essentiell aufklärerisches Argument, das man aber in den substanzialistischen Dämonisierungen der Gegenwart vergeblich sucht.

Der Nationalsozialismus als absoluter historischer Bezugspunkt und totalitäres Gegenmodell zur Bundesrepublik ist inzwischen "normativ internalisiert" (Lepsius). Dies kann man als eine eigentümliche Verbindung von "vernünftigem Lernen" und "neurotischer Prägung" (Kielmansegg) in unserem Lande charakterisieren. Offen bleibt, was letztlich überwiegt.

 

Fototext: US-Lager zur "Umerziehung" von HJ-Kämpfern des Volkssturms ("Baby-Camp") 1945: Politisches oder individuelles Unrecht?

 

Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. C. H. Beck, München 2001, 253 Seiten., 13,90 Euro


 
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