© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
Kolumne
Lebensgefühle
Klaus Motschmann

Der Wahlsieg Helmut Kohls im Jahre 1983 ist bekanntlich in erheblichem Maße aus der Ankündigung der später vielzitierten "geistig-moralischen Wende" in unserem Volke erklärt worden. Sie hat sich dann auch tatsächlich vollzogen - allerdings in exakt entgegengesetzter Weise als von Kohl verheißen und von seinen Wählern erwartet. Während der 16jährigen Kanzlerschaft sind vielmehr wesentliche gesellschaftliche Forderungen der 68er verwirklicht worden. Sie prägen seit Jahren das multikulturelle Milieu im "Standort D".

Die Auswirkungen dieser radikalen "geistig-moralischen Wende" lassen sich unter anderem daran erkennen, daß Edmund Stoiber, der als "konservativ" apostrophierte Kanzlerkandidat der CDU/CSU, nicht nur auf die Ankündigung einer "geistig-moralischen Wende" nach einem möglichen Wahlsieg verzichtet, sondern bereits vor der Wahl eine eigene, innerparteiliche Wende vollzieht, in dem er sich "aufgeschlossen gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel" der vergangenen Jahrzehnte zeigt.

Mit der Berufung der 28jährigen Potsdamerin Katherina Reiche in sein "Kompetenzteam" für Frauen-, Jugend- und Familienpolitik hat er jedenfalls ein deutliches Zeichen gesetzt, daß mit einer grundsätzlichen Kurskorrektur in diesen für die Zukunft unseres Volkes so entscheidenden gesellschaftlichen und politischen Bereichen nicht zu rechnen ist. Dies um so weniger, als Stoiber über die fachliche Kompetenz dieser jungen Frau bislang wenig verlauten ließ. Daß sie nach allem, was man aus ihrer Biographie weiß, "das Lebensgefühl vieler junger Frauen in Deutschland überzeugend verkörpert" - so Edmund Stoiber - ,wird niemand bezweifeln wollen. Läßt sich mit einem derartigen Hinweis aber überzeugend Kompetenz für die dringend gebotene Entideologisierung ihres Kompetenzbereiches begründen? Doch wohl nicht; allenfalls eine "Inkompetenzkompensationskompetenz", um an einen trefflichen Begriff Odo Marquardts zu erinnern.

Aber darum geht es offensichtlich nicht, sonst würde man in der CDU/CSU anders argumentieren und gelegentlich auch einmal auf das "Lebensgefühl" konservativer Menschen Rücksicht nehmen. Es geht vielmehr darum, durch immer neue Kniefälle vor den Geßlerhüten des Zeitgeistes den Beweis zu erbringen, daß man augenscheinlich weiterhin alles tun wird, um nicht in die "rechte Ecke" gestellt zu werden. Gemeinsame Aktionen mit der politischen Linken im "Kampf gegen Rechts" reichen dazu nicht mehr aus. Es geht nun an die Substanz der eigenen Wertevorstellungen!

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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