© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
Das Ende einer Kulturepoche
Rufmordkampagne: Die Vorwürfe gegen Martin Walser und seinen Roman "Tod eines Kritikers" ebben nicht ab
Thorsten Thaler

Die Vorwürfe gegen Martin Walser und sein neues Buch "Tod eines Kritikers" werden immer schriller. In seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität behauptete der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der Roman hetze gegen "die Juden" und folge "hier und da dem Vorbild des Stürmers". Ein solches Buch sei nach 1945 in deutscher Sprache nicht mehr veröffentlicht worden, sagte Reich-Ranicki vergangenen Donnerstag vor rund tausend Gästen in der Großen Aula der Universität.

In Walsers Schlüsselroman über den deutschen Literatur- und Medienbetrieb gibt Marcel Reich-Ranicki den bis zur Kenntlichkeit entstellten Großkritiker André Ehrl-König, der vermeintlich
einem Mord zum Opfer fällt. Der Tat verdächtigt wird ein von der "Herabsetzungslust" des Kritikers gekränkter Schriftsteller. Bereits vier Wochen vor seinem Erscheinen löste das Buch einen heftigen "Feuilletonkrieg" (Günter Grass) aus, nachdem der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher am 29. Mai in einem weithin als skandalös empfundenen Offenen Brief an Walser erklärte, warum der Roman nicht in der FAZ vorabgedruckt werde. Das Buch sei ein "Dokument des Hasses" und enthalte "antisemitische Klischees", urteilte Schirrmacher (JF 24/02).

Inzwischen hat die wochenlange Debatte das Buch zu einem Bestseller werden lassen. Nach einer Erhebung des Nachrichtenmagazins Focus sollen in den ersten beiden Wochen seit der Auslieferung an den Handel am 26. Juni rund 70.000 Stück verkauft worden sein, mittlerweile bereite der Verlag die dritte Auflage vor.

Reich-Ranicki, der sich gegen eine Veröffentlichung des Romans im Suhrkamp Verlag ausgesprochen hatte, bezeichnete jetzt in seiner Münchner Dankesrede Walsers Werk als "neue deutsche Mordphantasie", die ihn mit Trauer und Angst erfülle. Das Fazit des Romans laute in Abwandlung eines Goethe-Gedichts: "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist eine Jude." Der Erzähler vom Bodensee - Reich-Ranicki vermeidet es konsequent, Walser beim Namen zu nennen - könne sich nicht damit abfinden, "daß ich noch lebe und arbeite. Er kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist auf grausame Weise ungeduldig", erklärte der 82jährige Reich-Ranicki.

Besonders perfide mutet eine Passage in Reich-Ranickis Rede an, in der er über den 1927 geborenen Walser, der von 1943 bis Kriegsende Flakhelfer war, ausführt: "Einen Autor, der im Dritten Reich aufgewachsen ist und, wie er uns selber berichtete, im nationalsozialistischen Geist erzogen wurde, überkommt die Wut: Er kann seine Affekte nicht mehr beherrschen." Und weiter: Daß Walser geglaubt habe, gerade jetzt sei "endlich der Augenblick gekommen, seinem Haß freien Lauf zu lassen, das ist das Beunruhigende, das Gefährliche". Mit anderen Worten: Einmal Nazi, immer Nazi - oder was sonst wollte Reich-Ranicki damit sagen? Trefflicher läßt sich nicht illustrieren, auf welches armselige Niveau die Literaturkritik in Deutschland herabgesunken ist.

Während von Walser bis Dienstag keine Stellungnahme zu den Ausfällen Reich-Ranickis zu bekommen war, verteidigte Günter Grass (75) seinen Schriftstellerkollegen erneut. Die Äußerungen Reich-Ranickis entsprächen dessen Hybris. "Er hat diese Machtposition, die ihn dazu geführt hat, sich absolut zu setzen", sagte Grass vergangenen Samstag in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Aus der unsäglichen Vorverurteilung Schirrmachers sei eine "regelrechte Rufmordkampagne" geworden, gegen die sich Walser kaum wehren könne.

Ausdrücklich nahm der Literatur-Nobelpreisträger Walser abermals gegen den Vorwurf des Antisemitismus in dessen Buch in Schutz. "Die Stellen, die antisemitisch sein sollen, sind es nicht. Ich halte es für eine bloße Behauptung und nicht für einen Nachweis", sagte Grass. Immerhin habe Reich-Ranicki über Jahrzehnte oft genug zugeschlagen. "Mit ihm gab es eine Trivialisierung der Literaturkritik."

Reich-Ranicki war indes nicht der einzige, der sich in den letzten Tagen kritisch zu Walser äußerte. Der amerikanische Friedensnobelpreisträger und Autor Elie Wiesel erklärte in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit: "Wenn er das soziale Gewissen des gegenwärtigen Deutschland sein soll, dann wehe seinen Lesern." Wiesel hatte kürzlich verfügt, daß in der Neuauflage seines Auschwitz-Buches "Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnisse" (Herder) das ursprüngliche Vorwort Walsers nicht mehr enthalten ist. Seit der deutschen Erstausgabe in den sechziger Jahren war das Buch in vier Auflagen mit dem Walser-Vorwort erschienen. Wiesel betonte, seine Entscheidung habe nichts mit Walsers Roman "Tod eines Kritikers", sondern vielmehr mit dessen Rede in der Frankfurter Paulskirche vom Oktober 1998 zu tun. Walsers "unwürdige Bemerkungen über den Holocaust" hätten ihn "bestürzt und viele Juden empört", erklärte Wiesel.

In seiner von einigen Kritikern mißverstandenen Dankesrede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hatte Walser davon gesprochen, daß sich Auschwitz nicht als "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" eigne und vor einer "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken" gewarnt. Die Laudatio auf Walser hielt damals - Frank Schirrmacher. So ändern sich die Zeiten.

Unterdessen sorgte das Interview der JUNGEN FREIHEIT mit dem renommierten Kulturkritiker Joachim Kaiser (JF 28/02) weiter für ausgiebigen Gesprächsstoff. Darin hatte der Leitende Redakteur der Süddeutschen Zeitung Walser ebenfalls gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz genommen. In einem redaktionellen Vorspann zum Abdruck der Münchner Rede Marcel Reich-Ranickis schrieb die FAZ, daß "der einzige Verteidiger Walsers von Rang" als Forum die JF wählte, habe am Rande der Veranstaltung nicht nur Reich-Ranicki, sondern "alle bewegt".

Wie sehr das tatsächlich der Fall gewesen sein muß, läßt sich auch aus dem Echo heraushören, welches das Kaiser-Interview in anderen Medien gefunden hat. So berichteten die Berliner taz, Die Zeit und auch die FAZ selbst über das Gespräch. Die einhellige Ablehnung ("Irrweg eines Kritikers", titelte die FAZ) kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Marcel Reich-Ranicki zumindest mit einer Bemerkung in seiner Dankesrede - wenn auch aus anderen Gründen - Recht behalten dürfte. "Die oft beschworene Ära der Suhrkamp-Kultur ist abgeschlossen", sagte der Literaturkritiker, "es wird sie nie wieder geben." Ein Anlaß zum Trauern ist das sicher nicht.


 
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