© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
CD: Pop
Erfolgsrezepte
Peter Bossdorf

Der Sommer ist da, und die frischgebackenen Abiturientinnen und Abiturienten bevölkern die Straßen mit ihren kleinen Autos, deren Rückscheiben der stolze Hinweis auf das große Ereignis, das nunmehr hinter ihnen liegt, schmückt. Der richtige Zeitpunkt für eine neue Tocotronic-CD. Sie heißt offenbar, ein kleiner Verblüffungsversuch von Künstlern ist ja immer noch hübsch intellektuell, "Tocotronic" (L'Age d'Or/ Rough Trade). Was sie auf dieser umtreibt, ist weiterhin eine ganze Menge oder auch nichts, aber spielt das überhaupt eine Rolle? Es gibt so viele schöne Assoziationen auf der Welt - man kann sie gar nicht alle aufschreiben! Tocotronic ist aus der Krachmacherstraße dorthin umgezogen, wo der Biedermeier der BRD gepflegt wird. Man ist wieder kreativ und frech, aber leise. Man entdeckt den Tiefgang in den alltäglichen Dingen. Vor allem aber in sich selbst. Daraus macht man wieder einen Song, über den eigenen Tiefgang und wie man ihn entdeckt und über sich selbst zu staunen anfängt.

Vor ein paar Monaten schon gab es eine Band, die hieß Kante und veranstaltete etwas Ähnliches, eine Musik für die Studienabbrecher von einst, die nun, da das frohe Treiben am Tischfußballspiel längst Vergangenheit ist, in den leergefegten Büros der New Economy aus den Fenstern auf die Hinterhöfe schauen und darauf warten, daß jemand kommt und mit ihnen die letzten Möbel hinausträgt. Das ist für sich genommen eigentlich schon langweilig genug. Da sie nun aber so viel Zeit haben, verfallen sie ins Grübeln, und beim Pizzaessen werden sie sogar sentimental. Das ist dann noch langweiliger. Langweilige Menschen mit langweiligen Enttäuschungen nach langweiligen Hoffnungen brauchen Zuspruch, um auf andere Gedanken zu kommen.

Bei Tocotronic können sie sich geborgen fühlen. Dort singt man gelangweilt Lieder, die nicht langweilig sind. Die Menschen atmen auf. Es gibt jemanden, der begriffen hat, was diesen Augenblick unserer Mentalitätsgeschichte kennzeichnet. Der Erfolg ist dem Trio, das sich selbst so gerne als unschuldig reflektierende Waldspielgruppe ausgibt, zu gönnen. Die jahrelange Sensibilität hat sich gelohnt. Wieviel Lenze diese Männer mit den Kindergesichtern unterdessen wohl zählen mögen? So jung, wie sie aussehen, klingen sie jedenfalls nicht mehr, aber ihre Altklugheit haben sie sich bewahrt. Es sind nun andere Typen, die mit ihnen renommieren können, nicht mehr jene, die ihren Mitmenschen, aus welchen privaten Gründen auch immer, zur Kenntnis geben wollen, daß sie dagegen sind, sondern die, die lächelnd, wissend und nichtssagend aus der Wäsche schauen, damit jeder sich denken könne, daß sie sich keinen Illusionen über das Leben hingeben. Tocotronic war bislang ein Außenposten der Mitmachgesellschaft. Nun ist die Band deren Apologet.

Natürlich überwiegen aber unter den Content-Lieferanten für CDs unverändert jene, die sich nicht durch Ironie über ihr Produkt erheben wollen. Die finnische Band The 69 Eyes zum Beispiel findet nichts dabei, alle möglichen Klischees über Rockmusiker und ihr Leben auf die Probe zu stellen, immer in der Hoffnung, es möge ein Funken Realität in ihnen enthalten sein. Man ist überaus geschichtsbewußt. Gerne würde man mit Jim Morrison in einem Atemzug genannt werden. Dies ist jedoch unwahrscheinlich. Man hält schließlich auch nur den ersten Nonstop-Atlantikflug, aber nicht den x-millionsten für relevant. Dennoch ist "Paris Kills" (Road- runner) eine beachtliche CD. Was The Mission nie richtig gelang, nämlich so etwas wie Gothic-Pop zu kreieren, ist nun bei diesen fünf Finsterfinnen zu hören. Ihre Single "Gothic Girl" ließ noch befürchten, daß der Erfolg nur mit wachsender plakativer Banalität zu erkaufen wäre. Die Band ist diesen Weg aber nicht weiter gegangen.


 
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