© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Persönliches Versagen des Kanzlers
Rot-Grün: Sieben Wochen vor der Bundestagswahl befindet sich die Regierungskoalition in einer schweren Krise
Fritz Schenk

Von Tag zu Tag, von Auftritt zu Auftritt läßt der Bundeskanzler immer deutlicher erkennen, daß seine Nerven bloßliegen - zuletzt mit der Entlassung von Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Mit Gerhard Schröders "ruhiger Hand" ist es vorbei. Die Fülle der täglichen Hiobsbotschaften und der - auch selbst durch noch so dick aufgetragenen Zweckoptimismus - nicht mehr wegzuleugnende Abwärtstrend der SPD gehen ganz offensichtlich auch Schröder ans Selbstbewußtsein. Seine Hoffnungsfloskeln und mehr noch seine Gesten verraten Unsicherheit und wirken mehr denn je gekünstelt und linkisch.

Das überträgt sich inzwischen auch auf seinen getreuesten Paladin Franz Müntefering. Auch dem SPD-Generalsekretär, der bisher ohne überhaupt Ziele auszumachen grundsätzlich ohne Vorwarnung aus der Hüfte zu schießen pflegte, scheint plötzlich das Pulver naß geworden oder gar ausgegangen zu sein. Der Schnell-, Laut- und Dauerredner schlägt überraschend vorsichtige und eher leise Töne an. Er möchte selbst- und siegessichere Gelassenheit demonstrieren und vermittelt doch nur noch Unsicherheit.

Das kann nicht verwundern. Das Grundkonzept der im Frühjahr konzipierten Wahlkampfstrategie von Schröder und Müntefering ist gescheitert. Es sollte ganz und gar auf die Strahlkraft des Hoffnungskanzlers Schröder zugeschnitten sein und in der Polarisierung zwischen ihm (dem Garanten für Fortschritt und "soziale Gerechtigkeit") und Stoiber (als dem erzkonservativen rückwärtsgewandten "Unsozialen") gründen. Damit haben sie sich nicht nur in Stoiber, sondern in der Union insgesamt gründlich verkalkuliert. Hatte das doch vor vier Jahren mit der einfachen Floskel "sechzehn Jahre Kohl sind genug" so blendend funktioniert. Jetzt sind jedoch plötzlich Argumente gefragt. Und die müssen nun einmal auf Fakten fußen. Und siehe, da ist die "Kampa"-Truppe mit ihrem Latein am Ende, nicht zuletzt deshalb, weil die täglich trüber werdenden Fakten überlaut gegen das Regierungslager insgesamt, besonders aber gegen den Kanzler selber sprechen.

Viele Argumente gegen Schröder

Insofern gleicht der Wahlkampf 2002 dem von vor vier Jahren: Damals wie heute befindet sich das Regierungslager und insbesondere der Kanzler in der Defensive. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, daß die Argumente gegen Schröder diesmal schwerer wiegen als die gegen Kohl 1998. Auch damals war die Wirtschaftslage nicht gerade rosig und die Arbeitslosigkeit mit rund vier Millionen etwa so hoch wie heute. Aber die Ursachen dafür waren andere. Die letzte schwarz-gelbe Koalition unter Kohl hatte durchaus Konzepte für brauchbare und notwendige Reformen. Das Koalitionsabkommen von 1994 und die sogenannten Petersberger Beschlüsse von 1995, Blüms und Seehofers Gesetzentwürfe für die Reformen im Arbeits-, Sozial- und Rentenrecht sowie im Gesundheitswesen wären sehr wohl geeignet gewesen, unsere überregulierte Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Nur einen Teil davon konnte die letzte Kohl-Regierung verwirklichen, das Wesentlichste blockierte die SPD unter Lafontaine (und mit tätiger Unterstützung durch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder) über den von ihr dominierten Bundesrat. Die Union könnte gerade im jetzigen Wahlkampf auch darauf immer wieder hinweisen.

Auch zeigen CDU/CSU sich unsicher gegen das Palaver des rot-grünen und gesamten linken Lagers, wo sie denn die vielen Milliarden für ihre Pro-gramm-Versprechungen herholen wolle. Hier vermißt man eine offensive Aussage darüber, daß es gar nicht in erster Linie um die Mobilisierung immer neuer Einnahmen für die ohnehin ausufernden öffentlichen Haushalte geht, sondern um die Streichung so vieler überflüssiger Milliarden für unsinnige Subventionen und andere öffentliche Verschwendung.

Wichtiger aber für die Regierungsbilanz Schröder/Fischer ist, daß die rot-grüne Koalition nicht nur die schon zu mageren Reformansätze der letzten Regierung Kohl unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt wieder rückgängig gemacht, sondern mit der Ökosteuer, dem Atom-Ausstieg, der Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung und einer Fülle anderer staatlicher Regulierungen die Regelungsdichte noch erweitert und somit selber dazu beigetragen hat, daß Deutschland inzwischen zu den wirtschaftlichen Schlußlichtern in Europa gehört.

Negative Bilanz und viele Skandale

Es kommt hinzu, daß vor allem in der paritätisch mitbestimmten Großindustrie die Pannen und Pleiten nicht abreißen, sowohl die Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsräten wie die sozialdemokratischen Bosse in den Vorständen offenbar so gut wie nichts getan haben, um rechtzeitig die abschüssigen Bahnen zu verlassen. Nimmt man die allgemeine Situation Deutschlands, dann ist mit vier Millionen Arbeitslosen, einem Rekord an Firmenpleiten (insbesondere bei Handwerk und Mittelstand), dem Rückfall der neuen Bundesländer auf das Niveau von 1993 (und einer Abwanderung von mehr als einer Million junger Leute in die westlichen Bundesländer), den ungelösten Problemen im Sozial- und Gesundheitswesen wie auf vielen anderen Gebieten, der innere Zustand Deutschlands gegenüber 1998 nicht besser, sondern eher schlechter geworden.

Zu dieser negativen Bilanz, die um die Posten der SPD-Skandale in Köln und anderen Städten von Nordrhein-Westfalen erweitert werden kann (JF 30/02), gehört aber vor allem, daß dies allein auf das Konto des Bundeskanzlers Schröder zurückgeht. Man muß lange zurückblicken, um einen Bundeskanzler zu orten, der so uneingeschränkt in seiner eigenen Koalition schalten und walten konnte wie Gerhard Schröder. Er hat die Grünen in einer Weise diszipliniert, wie das vor vier, fünf Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Er hat nach der kindisch-trotzigen "Fahnenflucht" von Oskar Lafontaine praktisch keinen Widerspruch aus der eigenen Partei fürchten müssen. Er kann die DGB-Gewerkschaften, die Kulturszene und die elektronischen Medien zu seinen Fußtruppen zählen. Ihm sind die SPD-dominierten Länder im Bundesrat in Diadochentreue bis an den Rand des Verfassungsbruchs gefolgt (siehe Wowereit bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz) - kurzum: es läßt sich nichts nachweisen, was dieser Kanzler aus komplizierten partei-, koalitions- oder personalpolitischen Rücksichten oder Zwängen nicht hätte realisieren können. Daher geht der Zustand Deutschlands am Ende dieser Legislaturperiode vor allem auf ihn und sein ganz persönliches Versagen zurück.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins, danach bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF.


 
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