© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   33/02 09. August 2002


Bediene dich selbst

Die Bonusmeilen-Affäre zeigt, welche Vorbildfunktion Politiker ausüben
Günter Zehm

Fast das Deprimierendste an der Berliner Bonusmeilen-Affäre ist die Art, wie sie kommentiert wird. Man dürfe doch nicht, so tönt es landauf, landab, an die Politiker Ansprüche stellen, über die im Volk längst gelacht und hinweg gegangen werde. Politiker könnten nicht besser sein als das von ihnen repräsentierte Volk. Wenn dort, im Volk, Durchstecherei und Absahne-Gesinnung üblich seien, so müsse man das den Politikern eben auch nachsehen. Jedes Volk habe die Politiker, die es verdiene.

Es ist dies eine typische Gauner-Argumentation. Quod licet bovi, et licet Jovi, was dem Ochsen erlaubt ist, muß auch Jupiter erlaubt sein. Aus der (angeblichen) Verlotterung des Ganzen wird ungeniert das Recht der oberen Zehntausend auf ein Lotterleben abgeleitet, speziell das "Recht" gewählter Politiker zu unerlaubter Vorteilsnahme und generöser Vermischung staatlicher und privater Interessen.

Dabei geht es bei den Bonusmeilen keineswegs, wie ebenfalls immer wieder und von allen Seiten eingeblasen wird, um Bagatellen, Kleinigkeiten, "Peanuts". Wer im bürgerlichen Leben Rabatte für Operationen eingeräumt bekommt, die er im Auftrag seines Arbeitgebers ausgeführt hat, wird es sich normalerweise zweimal überlegen, ob er diese Rabatte für sich persönlich verwenden darf, ob er also mit fremdem Geld seine Lebensgefährtin zu einer Urlaubsreise nach Kuba einladen oder seine Oma im Altersheim am Gardasee besuchen darf.

Es geht immerhin um Tausende von Flugkilometern, um Tausende von Euros, die eigentlich dem Arbeitgeber zustünden. Und auch Politiker, Minister, Staatssekretäre, gewählte Abgeordnete, haben einen "Arbeitgeber". Es ist der Staat, Inbegriff und Voraussetzung jedes geordneten, zivilisierten Zusammenlebens, dessen Kassen ganz und gar durchsichtig sein müssen, weil er sich sonst selber dementieren würde und wir alle in den alten, urwüchsigen Naturzustand des blanken Egoismus zurückfallen würden.

Nicht der "gläserne Abgeordnete" steht auf der Tagesordnung, sondern der gläserne Staat. Der Politiker muß nur insofern gläsern sein, als er im Auftrag, in Repräsentanz des Staates ausgibt, fliegt, konsumiert. Wem das nicht mehr klar ist, wer Krokodilstränen darüber vergießt, daß ihm als Angehörigen der politischen Klasse - im Gegensatz zum "gewöhnlichen Bürger" - ein Übermaß an Offenlegung abverlangt wird, der gibt damit lediglich zu erkennen, daß er Staat und Eigeninteresse gar nicht mehr ordentlich auseinanderhalten kann, daß er den Staat im Grunde okkupieren und damit seiner genuinen Funktion berauben möchte.

Wenn "das Volk", der "gewöhnliche Bürger", wirklich so verlottert wäre, wie es in den letzten Tagen in unzähligen Kommentaren hingestellt wurde, so wäre es die selbstverständliche Pflicht der politischen Klasse, scharf dagegen anzugehen und durch eigenes Verhalten ein Vorbild zu geben. Denn "das Volk" ist keineswegs unbelehrbar und von vornherein von sich selbst überzeugt. Es richtet sich spontan nach dem, was ihm "von oben" vorgegeben wird, im Medienzeitalter noch mehr als früher. Das alte Sprichwort hat nur allzu recht: "Wie der Herr, so's Gescherr."

Beim "Herrn" liegt die Beweislast, wenn es darum geht, den moralischen Karat einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten Ära, ihre virtù, zu beurteilen. In alten vorparlamentarischen Zeiten nahmen die Könige und herrschenden Aristokraten ohne weiteres für sich in Anspruch, "etwas Besseres" zu sein als die gewöhnliche Plebs, und wenn sie wirkliche und erfolgreiche Herrscher waren, lief das stets darauf hinaus, daß sie mehr von sich verlangten als ihre Untertanen, daß sie sich mehr am Riemen rissen und sich ausdrücklich und völlig öffentlich unter das Gesetz, "den Willen Gottes", stellten. Die Vorteilnahme kam, wenn überhaupt, erst in zweiter oder dritter Linie.

Heute fühlt sich die politische Klasse üblicherweise nicht mehr als Vollstrecker des Willens Gottes, sondern des Volkes, von dem sie gewählt ist, der volonté génerale. Die Ambition und Elaboriertheit des Herrschaftsgefühls hat sich dadurch aber nicht vermindert, eher im Gegenteil, wie ja schon die dröhnenden Feiertagsreden in Berlin und anderswo bei allen möglichen Anlässen zeigen. Das verliehene Mandat, die Repräsentanz, wird hochgehalten und wenigstens äußerlich als Verpflichtung zum Besseren verstanden. Man legt - um mit Rousseau zu sprechen - Wert darauf zu demonstrieren, daß die verliehene volonté génerale keinesfalls eine bloße volonté de tous, die banale Summe aller Einzelwillen, ist.

In der tagtäglichen politischen Praxis diesseits der Feiertagsreden hapert es freilich. Man läßt sich gut bis sehr gut bezahlen, nimmt alle möglichen kleinen und großen Privilegien in Anspruch (die oft noch aus den Ständeregelungen der feudalen Zeiten stammen und sich, genau betrachtet, unter demokratischen Zuständen nicht mehr rechtfertigen lassen) und hält sich trotzdem für unterbezahlt und zurückgesetzt.

Noch der indolenteste Hinterbänkler mißt seinen sozialen Standard inzwischen nicht mehr am Standard des sogenannten Kleinen Mannes, den er doch angeblich repräsentiert, sondern an den Spitzenverdienern der bürgerlichen Gesellschaft, an Konzernmanagern, Modeärzten, Sport- und Fernsehstars. Die Mediengesellschaft mit ihrer Gier nach äußerlichen Statussymbolen tut ein Übriges. Ohne die Medien wäre der moderne Politiker nichts, aber um in die Medien hineinzukommen und dort eine akzeptierte Figur zu machen, braucht er - außer teuren Vorzeige-Accessoires - Beziehungen, Aufklärung über das, was in bzw. out ist, Beratung, Dispositionsfreiheit bei unverhofften Ausgaben.

Das ist dann die Stunde des Moritz Hunzinger und Seinesgleichen. Sie spielen "Sesam öffne dich" sowohl für den Jungpolitiker mit Ehrgeiz und Ambition als auch für ältliche, bis dato noch zimperlich volksverbunden gewesene Politprofis, die unverhofft in die Midlifecrisis geraten. Man hilft aus, wo es nötig ist, gibt Rat und Darlehen, stellt die richtigen Beziehungen her, verpaßt dem Klienten das zeitgemäße Äußere nebst allem, was dazu gehört. Und plötzlich befindet sich dieser auf einer ganz anderen Stufe der Repräsentanz, vertritt nicht mehr das Volk und nicht einmal mehr seinen Wahlkreis, sondern höchstens noch die Interessen dessen, der ihm die nützlichen Beziehungen verschaffte.

Angesichts solch hehrer Metamorphosen erscheint dann die private Nutzung von Bonusmeilen tatsächlich nur noch als Bagatelle, zumal man sie dem Volk, das es angeblich genauso macht, leicht in die Schuhe schieben kann. Auf der Strecke bleibt der Staat, mit dessen Gläsernheit es nicht mehr weit her ist, dessen Glas höchst opaken eingetrübt ist. Aber die feierlichen Sonntagsreden bleiben natürlich, vor allem in Wahlkampfzeiten.


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