© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/02 09. August 2002

 
Pariser Verschwörungstheorien
Frankreich: Nach dem verhinderten Attentat auf Chirac wird weiter über die Innere Sicherheit diskutiert
Charles Brant

Bei der Pariser Militärparade zum Nationalfeiertag am 14. Juli nahm ein junger Mann einen kleinkalibrigen Karabiner LR 22 aus einem Gitarrenkoffer. Doch drei Zuschauern - einem algerischstämmigen Frankokanadier, einem Marokkaner und dem Elsässer Jacques Weber - gelang es, Maxime Brunerie zu überwältigen. Jacques Chirac hatte davon nichts mitbekommen. Der Präsident fuhr weiter die Champs-Elysées entlang bis zur Ehrentribüne auf der Place de la Concorde, wo einst Ludwig XVI. geköpft wurde. Erst hier informierte ihn Innenminister Nicolas Sarkozy über den Anschlag auf ihn.

Zusätzliche Dramatik gewann das Ereignis durch den politischen Hintergrund der Täters. Maxime Brunerie sei der Polizei als Mitglied rechtsradikaler Organisationen wie der Groupe Union Défense (GUD) und Bruno Mégrets Nationalrepublikanischer Bewegung (MNR) bekannt, verkündete Sarkozy.

Der 25jährige Student war verhaftet und auf die Polizeipräfektur gebracht worden, wo er sofort vernommen wurde. Er gestand, den Tod des Präsidenten geplant zu haben. Im Laufe der nächsten Stunden stellte sich heraus, daß Brunerie seine Absicht auf der von London aus betriebenen Internetseite "Combat 18" angekündigt hatte. Auch seine Laufbahn an den radikalsten und fragwürdigsten Rändern der französischen Rechten hatte man schnell rekonstruiert. Neben dem Fanclub des Fußballvereins Paris-St.Germain hatte er der Französischen und Europäischen Nationalistenpartei (PFNE) angehört, einer Nachfolgeorganisation von Mark Fredriksens Nationaler Europäischer Föderation (FANE).

Eine weitere Station seines Lebenslaufes war die 1968 an der Pariser rechts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät Assas gegründete Studentenformation GUD, die sich selbst als "Waffen-Assas" bezeichnet. Die im Juni 1998 gegründete Unité Radicale, die sich mit ihren verbalen Provokationen geradezu selber karikiert, beschloß nach der Spaltung von Le Pens Front National (FN) Mégrets MNR zu unterstützen. So kam es, daß Brunerie bei den Kommunalwahlen 2001 im 18. Pariser Arrondissement auf der MNR-Liste an siebter Stelle kandidieren durfte.

Ab dem nächsten Morgen stand die Titelseite der linken Tageszeitung Le Monde ganz im Zeichen der extremen Rechten. Im Innenteil breitete die Zeitung die Ergebnisse ihrer Nachforschungen aus: die Durchlässigkeit radikaler Bewegungen, ihre Begeisterung für Hakenkreuze und "white power".

Der bürgerliche Figaro zog nach und füllte auch sein Titelblatt mit der rechten Gefahr. Valeurs actuelles, das Blatt der Chirac-Anhänger, will "Hundert Jahre Mordanschläge auf französische Präsidenten" auf einen Nenner bringen: Ein gewisser Franck Hériot vergleicht in dem Artikel Bruneries Mordversuch mit den Anschlägen der OAS auf Charles de Gaulle während des Algerienkriegs und vergißt auch nicht die erfolgreichen Attentate zu erwähnen, die in Lyon auf Sadi Carnot (1801-1894) durch den Anarchisten Santo Caserio und in Paris auf Paul Doumer (1857-1932) durch den Weißrussen Paul Gorgulov verübt wurden.

Hériots Bemühungen, den Eindruck eines hundert Jahre alten Komplotts entstehen zu lassen, sind beachtenswert, suggerieren sie doch die Existenz historischer Verbindungslinien zwischen der extremen Rechten, den Globalisierungsgegnern und den Netzwerken islamistischer Fundamentalisten. Damit rückt man die "Ausrottung" der extremen Rechten - deren Verbot auch unisono von zahlreichen Politikern und Organisationen gefordert wurde - in unmittelbare Nachbarschaft zu den Zielen der USA im "Kampf gegen den Terror": als Fortsetzung der "Wir sind alle Amerikaner"-Rhetorik des letzten Herbstes.

Doch die Ermittlungen der französischen Polizei widersprachen den Thesen der Publizistik: Bei Brunerie handele es sich um einen psychisch gestörten Einzeltäter. Schon im Anschluß an seine Verhaftung wurde er in die psychische Ambulanzstation der Polizeipräfektur eingeliefert, um weiteren Selbstmordversuchen vorzubeugen. Bruneries Attentat scheint dem Wahn eines Kranken entsprungen zu sein, der unfähig war, seine selbstmörderischen Phantasien in die Tat umzusetzen. Für diese These spricht nicht zuletzt die Wahl seiner Waffe. In Paris ist es ein Kinderspiel, eine Kalaschnikow aufzutreiben. Der Karabiner LR 22 ist frei im Handel erhältlich; sein Besitz muß lediglich polizeilich registriert werden. Jeder weiß, daß diese Waffe nur aus nächster Nähe tödlich ist.

Es gibt daher sogar einige Franzosen, denen diese Anhaltspunkte reichen, um - à la 11. September 2001 - sogar Verschwörungstheorien zu entwicklen. Sie erinnern an den Anschlag, den François Mitterrand in den fünfziger Jahren auf sich selber inszenierte. Die Unité Radicale, argumentieren sie, sei Beobachtern der rechten Szene seit langem ein Dorn im Auge, ihre Chefs seien schon des öfteren in undurchsichtige Angelegenheiten verwickelt gewesen. Daß Le Monde-Journalisten ihren Treffen beiwohnen konnten, zeige, wie porös die Organisation sei, und lege die Vermutung nah, daß auch die Polizei sie längst unterwandert habe. Weniger klar ist, welchen Profit der Staatschef aus einer solchen "Manipulation" schlagen sollte: den Ritterschlag als furchtloser Gegner der Rechten, die er zu seinem Hauptfeind erkoren hat?

MNR-Chef Mégret hingegen, der vor Jahren sogar einmal dem Zentralkomitee von Chiracs Partei RPR angehörte, hat dem Präsidenten selbstverständlich ein Beileidsschreiben geschickt und alle Verwürfe gegen seine Partei zurückgewiesen. Jean-Marie Le Pen hingegen konnte sich nicht verkneifen, auch an die linksextremistisch motivierten Anschläge der letzten Zeit zu erinnern: an Richard Durn, der im März in Nanterre acht Menschen erschoß, oder an die Terroristen der "Action Direct" und das kaum verhüllte Wohlwollen, das sie unter den Würdenträgern der Sozialistischen Partei genießen.

Die entscheidende Frage wird bei all diesen Diskussionen häufig ausgespart: die offenkundige Unfähigkeit der Polizei, trotz hohem Aufgebot und bester Ausrüstung mit isolierten Bedrohungen fertig zu werden. Zeugenaussagen belegen, wie träge die Polizei reagierte. Innenminister Sarkozy veranlaßte nun, den Personenschutz des Präsidenten zu verstärken. Bisher waren fünfzig Gendarmen und Polizisten der Eliteeinheit GSPR (Groupe de sécurité de la présidence de la République) mit dieser Aufgabe betraut. Am 14. Juli waren Scharfschützen an allen strategischen Punkten der Strecke postiert, während Tausende von Polizisten sich unter die Menge mischten - trotzdem konnte Brunerie ein Gewehr mitbringen.

Ob die von Sarkozy geplanten 7.000 neuen Stellen in der Gendarmerie und 6.500 bei der Polizei - Kostenpunkt 5,6 Milliarden Euro bis 2007 - ausreichen, um Verwirrte oder politische Fanatiker von ihren Mordplänen abzuhalten, ist äußerst fraglich. Doch nach dem Attentatsversuch scheint sich zwischen Rechten und Linken wenigstens ein Konsens abzuzeichnen: Die Frage der Inneren Sicherheit muß vorrangig gelöst werden.


 
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