© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Das deutsche Gesundheitssystem modernisieren
Sozialpolitik: Ohne durchgreifende Reformen werden die Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung weiter steigen
Jens Jessen

Die Berater der Schweizer Regierung konnten diese 1996 mit dem Wettbewerbsargument davon überzeugen, eine neue Ausrichtung des Gesundheitssystems zu wagen. Dafür erhielt die Schweiz im Jahr 2000 in Gütersloh den Carl-Bertelsmann-Preis. Das Gesetz enthalte "marktwirtschaftliche Elemente, die aber sozialverträglich gestaltet sind".

Sechs Jahre später ist dieses neue Gesundheitssystem so teuer, daß die Grundversorgung für nicht wenige Versicherte kaum noch zu bezahlen ist. 1996 brachte - nach einem Bericht der Hamburger Zeit (28/2001) - eine vierköpfige Familie für diese Grundversorgung 5.000 Franken im Jahr auf, 2001 waren es schon 6.700 Franken - 34 Prozent mehr. Auch die Neue Zürcher Zeitung beklagte am 16. Mai 2002 die Kostenexpansion, die von 1996 bis einschließlich 2001 jährlich zwischen 4,2 Prozent im Jahr 1999 und 7,3 Prozent im Jahr 2000 betrug. Laut NZZ wird mit erheblichen Steigerungen auch in den nächsten Jahren gerechnet. Wettbewerb allein sei keine Garantie für ein kostensparendes Gesundheitswesen.

Um Wettbewerb im deutschen Gesundheitswesen zu erzeugen, wurde im Gesundheitsreformgesetz 2000 die "integrierte Versorgung" als ein Instrument im Sozialgesetzbuch (SGB V) geschaffen. Seither sind 31 Monate vergangen, mit vielen Tagungen, runden Tischen und rastloser Tätigkeit, um die Gesetzesvorgabe umzusetzen. Das Ergebnis ist dürftig. Integrierte Versorgungsformen führen nach Ansicht des Gesetzgebers zu einer verschiedene Leistungssektoren übergreifenden Versorgung der Versicherten. Um die Theorie in die Praxis zu überführen, sind noch viele ungelöste Fragen zu beantworten. Aus der Fülle der Probleme sollen einige genannt werden, etwa eine gesetzliche Regelung für den Datentransfer im Gesundheitswesen:

- "Die gesetzliche Krankenversicherung weiß, was sie für Ärzte, für Krankenhäuser oder für Arzneimittel ausgibt. Aber sie weiß nicht, was Diabetes, Bluthochdruck oder chronische Atemwegserkrankungen kosten. Sie weiß nicht, was passiert, wenn man jetzt in eine optimale Arzneimitteltherapie investiert. Daten dazu sind bislang bestenfalls punktuell erhoben worden, oder sie stammen aus dem Ausland und sind für Deutschland nur begrenzt aussagefähig. Und: Ohne Datentransparenz weiß niemand, ob die Disease-Management-Programme einen medizinischen und ökonomisch sinnvollen Effekt haben", schreibt Rainer Vollmer am 15.Mai 2002 in der Ärzte Zeitung.

- Die Auflösung der Sektorengrenzen findet bisher nicht statt. Heute verstärkt sich bei Beobachtern des Gesundheitswesens der Eindruck, daß sich die Abschottung der Bereiche verstärkt.

- Eine Änderung der Finanzierung der Versorgung mit Pauschalen. Die Pauschalen in den Krankenhäusern werden vor 2007 nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. Für den ambulanten Bereich sind sie bisher nicht vorgesehen.

- Die Schaffung der für die integrierte Versorgung erforderlichen Versorgungsstrukturen (managed care). "Wer sich die gesundheitspolitische Landschaft ansieht stellt fest, daß wir über managed care lange Zeit auf Veranstaltungen diskutiert haben, aber zur konkreten Umsetzung nicht (so richtig) gekommen sind." Dieser Feststellung von Rainer Holldorf, Leiter der Landesvertretung Thüringen der TKK, Erfurt in Brennpunkt-Gesundheitswesen 3/02 läßt sich schwer widersprechen.

- Grundlagen für eine gleichwertige Qualität in allen Versorgungsbereichen befinden sich im Diskussionsstadium.

- Die Empfehlungen für eine an einheitlichen Grundsätzen ausgerichtete sowie sektoren- und berufsgruppenübergreifende Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, einschließlich ihrer Umsetzung, stecken noch in den Kinderschuhen. Regelungen über die inhaltlichen Voraussetzungen zur Teilnahme der Vertragsärzte an einer integrierten Versorgung sind noch nicht umgesetzt.

- Die Einführung einer einheitlichen elektronischen Krankenakte im ambulanten und stationären Bereich läßt immer noch auf sich warten. Die Ansätze zur Optimierung der Patientenversorgung durch sektorübergreifende Verzahnung scheitern an dem Fehlen intelligenter und effizienter Telematiksysteme. Das elektronische Rezept und der elektronische Gesundheitspaß sind Ansätze, die sich gegenseitig behindern.

- Eine Festlegung, wer wann was tun kann unter Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten, fehlt.

Es gibt für eine Umsetzung der integrierten Versorgung in Deutschland bisher keine ausreichenden Voraussetzungen. Der Weg dahin kann nur schrittweise erfolgen. Das bedarf eines langen Atems und nicht der in der Politik üblichen Hektik. Das bedarf auch des Fingerspitzengefühls der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, die wissen sollte, daß sie an einer integrierten Versorgung nicht vorbeikommt.

Forderungen, die mit dem Argument des Aufbrechens von Monopolen umgesetzt werden sollen, sind kontraproduktiv. Das gilt für alle Beteiligten. Integration zu propagieren und umzusetzen, sind zwei Paar Schuhe. Es gibt keine Hinweise darauf, daß in absehbarer Zeit die gesetzlichen Vorgaben eine umsetzbare Blaupause für diese notwendige - und früher oder später kommende - Versorgungsform abgeben werden. Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, ein nationales Strategiepapier zur Umsetzung des Beschlusses der EU-Regierungschefs vom Juni 2000 zustande zu bringen, wonach sich die Mitgliedsstaaten verpflichtet haben, bis Ende 2002 eine flächendeckende Telematikinfrastruktur für den ambulanten und stationären Bereich zur Verfügung zu stellen. Das ist die Grundlage für die integrierte Versorgung.

Diese Regierung wird dabei bleiben, hektische Aktivitäten zu entwickeln, die sie dann als Gesundheitspolitik verkauft. Ändern wird sich dadurch nichts. Die Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung werden weiter steigen.


 
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