© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Besichtigung einer Tragödie
Bürgerkriegstourismus: In Nordirland sind nicht nur die Landschaften interessant
Martin Lohmann

Tourismus wird in Nordirland als einer der Schlüssel angesehen, mit dem die wirtschaftliche Entwicklung und damit der Frieden in der permanenten Unruheprovinz vorangetrieben werden soll. Die Voraussetzungen dazu sind günstig, bietet Nordirland dem Reisenden doch reizvolle Naturlandschaften wie die einzigartige Basaltküste der Giant's Causeway oder die zu ausgedehnten Wanderungen einladenden Täler der Glens of Antrim. Aber Nordirlands eigentlicher Reiz liegt nach wie vor im Bürgerkriegstourismus.

Es sind vor allem zwei Zentren, die der Reisende näher in Augenschein nehmen sollte, die Provinzhauptstadt Belfast und Derry, die zweitgrößte Stadt der Provinz.

Das viktorianisch geprägte Belfast war der Hauptschauplatz der "Troubles", der gewalttätigen Phase des dreißigjährigen Bürgerkriegs, der bis heute seine Spuren im Stadtbild hinterlassen hat. In Orwellscher Manier wird die Stadt flächendeckend von den Videoüberwachungssystemen der britischen Armee und des nordirischen Polizeidienstes observiert, die Eingänge zu vielen Pubs sind zum Schutz vor Wurfgeschossen mit Drahtkäfigen gesichert, die Polizei patrouilliert in an Tanks erinnernden Einsatzfahrzeugen und verschanzt sich in Stationen, die wie Forts im Feindesland gesichert sind, und die an Länge und Zahl zunehmenden Mauern der Peacelines trennen nach wie vor Katholiken und Protestanten voneinander.

Für Fotografen dürften vor allem die Murals, die eindrucksvollen Wandbilder, die sich in ihrem künstlerischen Wert so wohltuend von den infantilen Graffitischmierereien anderer europäischer Großstädte abheben, von großem Interesse sein. Die von ihnen ausgehenden Botschaften geben ein beredtes Zeugnis vom aktuellen Zustand des fragilen Friedensprozesses, und manche dargestellte historische Szene zeugt von einem für Deutsche ungewohnt weitreichenden Geschichtsbewußtsein, das bis in das 17. Jahrhundert zurückgeht. Sehr viele dieser Wandbilder finden sich entlang der Hauptverkehrsstraßen Shankill und Newtonards Road, die beide durch protestantisches Territorium führen, und der durch das Herz des irisch-katholischen Republikanismus führenden Falls Road, wo sich auch die Parteizentrale der irisch-nationalistischen Partei Sinn Fein befindet, nebst angeschlossenem Buchladen, in dem sich Touristen sowohl mit umfangreichem Informationsmaterial als auch banalem Polit-Kitsch eindecken können. Diese Strecken sind innerhalb eines Tages leicht zu Fuß abzulaufen.

Trotz der Meldungen über gewalttätige Ausschreitungen ist Belfast für Touristen ein sicherer Ort. Die paramilitärischen Gruppen achten schon aus Eigeninteresse darauf, daß Touristen unbehelligt bleiben. Selbst eine so umstrittene Straße wie die Ardoyne Road, wo im vergangenen Jahr protestantische Bewohner Steine auf katholische Grundschülerinnen warfen, kann von Touristen gefahrlos durchquert werden. Aber wenn im Dunkel der Nacht die paramilitärischen Auseinandersetzungen beginnen, suchen Fremde besser einen sicheren Platz auf.

Wer allerdings Wert auf Sicherheit legt, kann auch eine Stadtrundfahrt mit einem "Black Taxi" buchen. Diese aus britischen Altbeständen rekrutierten Fahrzeuge sind während der Hochphase der "Troubles" von katholischen Bewohnern Belfasts angeschafft worden, um Ersatz für den zusammengebrochenen Busverkehr zu schaffen. Heute fahren sie für wenige Pfund auch Touristen zu den historischen Stätten des Konfliktes und ihre Fahrer, oftmals IRA-Veteranen, bieten interessante Informationen aus erster Hand.

Die am nordwestlichen Ende Nordirlands entgegengesetzt zu Belfast gelegene Stadt Derry, von Protestanten nach wie vor Londonderry genannt, war der Schauplatz des "Bloody Sunday", als vor dreißig Jahren britische Soldaten unter den Teilnehmern einer Bürgerrechtsdemonstration ein Blutbad anrichteten. Heute erinnert an dieser Stelle ein Mahnmal an die vierzehn Toten dieses verhängnisvollen Tages. Nur ein Steinwurf entfernt befindet sich vor dem Eingang des katholischen Ghettos Bogside ein anderes bedeutendes Wahrzeichen Derrys, die "Free Derry Corner", der deutlichste Hinweis auf eine im wahrsten Wortsinne "national befreite Zone" des irisch-republikanischen Nationalismus. Auch hier wird die Szenerie von Murals abgerundet, deren Bedeutungen man sich während einer Führung erläutern lassen kann.

Wer nach Nordirland reist und das Gespräch mit Einheimischen sucht, sollte gerade im Umgang mit Protestanten Rücksicht üben. David Gilliland von der protestantischen Kulturinitiative "Power to the People" erklärt, daß man nicht gerne mit Außenstehenden über den Konflikt spreche, da hierbei die Erfahrung gemacht wurde, daß diese oftmals eine vorurteilsbehaftete und einseitige Einstellung mitbringen.

Sicherheitskräfte in Aktion zu fotografieren, empfiehlt sich nur aus der Deckung. Wer erwischt wird, riskiert nach wie vor die Konfiskation des Films. Hier verstehen die Sicherheitskräfte keinen Spaß, auch wenn sie sich Touristen gegenüber ansonsten sehr freundlich verhalten.

Auf den Regenschirm als das wichtigste Reiseutensil sollte auch im Sommer keineswegs verzichtet werden. Schon Heinrich Böll beklagte in seinem "Irischen Tagebuch" (1957) das nasse, unberechenbare Wetter, das manchmal alle vier Jahreszeiten an einem Tag bereithält. Mag man sich in Nordirland auch keinen Sonnenbrand holen, eine Rostschicht ist einem hier immer sicher.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen